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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0339
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334 BESPRECHUNGEN.

sich mit Augen nicht sehen und mit Ohren nicht hören läßt, ist der Gegenstand
ihrer Kunst.

Von dieser Wesensbestimmung griechischer und gotischer Kunst geht Scheffler
in dem letzten Hauptkapitel seines Buches zu ihrer Realisierung innerhalb der ge-
samten Kunstgeschichte über. Er beginnt mit einer Schilderung der Höhlenmalereien,
in denen er Züge des gotischen Geistes feststellen zu können meint, die sich dann
in der ägyptischen Kunst wiederholen. Und nun geht es weiter im Fluge durch
alle Kunstepochen hindurch vom Babylonischen bis zum modernen Impressionismus.
Auch die indische und die ostasiatische Kunst werden in die Betrachtung hinein-
gezogen und mit einem gotischen Stempel versehen. Am reinsten zeigt sich der
gotische Geist in der Gotik selbst und in der Barockkunst, in den großen Bauten
der Gotik und in Männern wie Dürer, Grünewald, Rembrandt, Michelagnio, jenem
großen Künstler, »in dem der Kampf des griechichen mit dem gotischen Menschen
fast verkörpert erscheint«; der griechische Geist hat sich am reinsten in der griechi-
schen und in der Renaissancekunst ausgeprägt.

Was ich an diesen Ausführungen vermisse, ist die Anschaulichkeit und Be-
deutsamkeit, die allein durch die Analyse am einzelnen konkreten Bildbeispiel ge-
geben werden kann, wie es z. B. in Wölfflins kunstgeschichtlichen Grundbegriffen in
mustergültiger Weise geschehen ist. Scheffler vermeidet es durchweg, an einer
bestimmten Architektur, Plastik oder einem Gemälde innerhalb des großen, ihm
zur Verfügung stehenden Kunstmaterials gotische oder griechische Einstellung nach-
zuweisen. Seine Charakteristiken beschränken sich fast gänzlich auf die Architektur
und gehen auch hier nur ganz ins Allgemeine. Der verhältnismäßig geringe Um-
fang des Werkes kann hier nicht als Entschuldigung dienen, da er dem Verfasser
Raum genug zu einer ebenso weitläufigen wie entbehrlichen Abschweifung über
indische Kunst gewährt. Sodann ist zu beklagen, daß das reichliche Abbildungs-
material im Text direkt überhaupt nicht verwertet ist und so für den Durchschnitts-
leser nur als eine zwar ganz unterhaltende, aber doch ziemlich überflüssige Zugabe
in Betracht kommt. Endlich ist zu bemerken, daß Scheffler zu weit geht, wenn
er auch im Impressionismus deutliche Spuren des gotischen Geistes zu erblicken
glaubt. »Gotisch«, so sagt er, »ist der Impressionismus, weil auch er das Pro-
dukt eines erregten Weltgefühls ist, weil ein Wille darin Form gewinnt, weil
die Form aus einem Kampf entspringt, weil er in die Erscheinungen die seeli-
sche Unruhe des Menschen hineinträgt und weil er die künstlerische Umschrei-
bung eines leidenden Zustandes ist.« Diese Sätze vernichten meines Erachtens
alle Klarheit über das Gotische, die die vorangegangenen Schilderungen desselben
geschaffen haben.

Übersieht man das Werk als Ganzes, so kann man zwar das Prinzip des Ver-
fassers, zwei so bedeutsame Richtungen wie die des Griechischen und des Gotischen
innerhalb der gesamten Kunstübung verfolgen zu wollen, nur loben, kann sich aber
nicht verbergen, daß der Verfasser nicht zum Ziel gelangt ist und nur einen Bruch-
teil seiner Aufgabe zu lösen vermocht hat. Sodann wäre zu wünschen, daß der
irreführende Titel bei einer zweiten Auflage in einen seinem Inhalt angemesseneren
umgewandelt würde. Als einen solchen schlage ich vor: Formwille und Ausdrucks-
wille; eine Betrachtung über die Motive der bildenden Kunst.

Ich möchte jedoch diese Beurteilung nicht schließen, ohne noch einmal auf die
feinen Bemerkungen des ersten einleitenden Kapitels hingewiesen zu haben. Sie be-
ziehen sich auf das Verhältnis der Kunsttheorie zum Kunstschaffen und setzen sich
mit einer in solchen Arbeiten selten anzutreffenden Klarheit und Wärme für die Er-
kenntnis ein, daß nur die Kunsttheorie fruchtbar sein kann, die in unmittelbarer
 
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