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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Bühler, Charlotte: Erfindung und Entdeckung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0050
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46 CHARLOTTE BÜHLER.

Einfühlung1). Der Erfindung dient die neuartige Zusammenfassung,
neuartige Übertragung, steigernde Ausgestaltung.

Auf den ersten Blick sollte man meinen, daß gewisse Abstrak-
tionen, also Entdeckungen, etwa das Erfassen von Dingen und Eigen-
schaften, Voraussetzungen alles übrigen und das Erste sind. Eine
Analyse der Schimpansenleistungen hat indessen die Annahme einer
Art handwerklicher, technischer Erfindungen des spielenden Zufalls
wahrscheinlich gemacht, die von Entdeckungen unabhängig entstünde2).
Gleichviel, ein Prioritätsstreit hat hier kein Interesse. Auch nicht der
Prioritätsstreit, ob wohl die Abstraktion von Qualitäten oder von Sach-
verhalten früher ist. Es kommt hier nichts darauf an. Daß die Sonne
scheint, muß aus dem Komplex von Wahrnehmungen ebenso wohl
einmal abstrahierend herausgelöst werden wie ihre Helligkeit oder
Wärmekraft oder die Sonne überhaupt als Gegenstand. Im Kindes-
alter differenziert das Stadium der Benennungen die Objekte, und so-
bald nur einige Termini da sind, werden auch Sachverhalte und Quali-
täten herausgelöst. Jedes erstmalige Herauslösen ist eine Entdeckung,
von der Person aus betrachtet, die sie zum ersten Male macht. Jeder
einzelne muß für sich eine große Anzahl solcher Entdeckungen noch
einmal machen, die für die Gesamtheit schon gemacht wurden.
Schöpferisch nennt man die Entdeckungen, welche der Gesamtheit
Neues zeigend vorangehen. Ein Pädagoge wie Rousseau war der
Ansicht, man solle jeden Menschen alle wichtigen Errungenschaften
der Kultur und Zivilisation von neuem entdecken lassen. Gegen
dieses Prinzip hat man indes eingewandt, daß es viel Fehlwege un-
nötig beschreiten, viel falsche Assoziationen unnötig sich bahnen läßt,
abgesehen davon, daß es zeitraubend und umständlich ist, und so
teilt man denn das meiste an überkommenem Gut praktischer und
theoretischer Funde dem Zögling als Tatsache mit. Die Fülle der

') Worringer hat in seinem gehaltvollen Buch »Abstraktion und Einfühlung«
die beiden Prozesse in einen vielleicht kunstgeschichtlich berechtigten, aber psycho-
logisch nicht haltbaren Gegensatz gebracht. Die durch einfühlende Versenkung
in einen Gegenstand gewonnene Erfassung schließt eine nachmalige Abstraktion
d. h. eine Vernachlässigung gewisser unwichtiger Teile des Erlebnisses nicht aus,
ja die künstlerische Darstellung kann solcher Auslese gar nicht entraten. Das
Problem der Einfühlung, dieses vielumstrittenen Phänomens, erfordert eine ge-
sonderte Behandlung. Setzen wir hier den Komplex von Prozessen, der als Ein-
fühlung zu bezeichnen ist, als gegeben wie die Wahrnehmung und das Denken,
so können wir zweifellos auch von einer Abstraktion aus der Einfühlung, einer
Auslese aus dem durch Einfühlung Erfaßten sprechen. Eines weiteren bedarf es
hier nicht.

2) Karl Bühler, Abriß der geistigen Entwicklung des Kindes. Wissenschaft
und Bildung 156, 1919. S. 54 »das Werkzeugdenken«.
 
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