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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Bühler, Charlotte: Erfindung und Entdeckung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0071
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ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 57

Unzahl niederer zu immer höheren Einheiten,zusammengefaßt sind.
Kleinste Einheiten sind Aussehen, Bewegung, Mimik und Charakter
einer Person oder ein Sachverhalt, ein Ereignis und die Wiedergabe
dieser Momente. Abhängigkeitsverhältnisse aller Art verknüpfen die
kleinen Einheiten zu höheren übergreifenden Einheiten. Beeinflussung
durch verschiedene Personen und Umstände sowie Beweggründe im
Individuum selbst verbinden sich zum Komplex einer Tat, die Tat hat
andere zum Gefolge oder entwickelt das Wesen des Erzeugers wiederum
in bestimmter Weise, so entstehen eine Handlung, eine Entwicklung.
Über die Art der Verknüpfung der Gestaltstücke und kleinen Einheiten
zu höheren und schließlich zu der Einheit der Dichtung werden wir
später noch ausführlich handeln. Hier nur soviel: Die einzig maß-
gebende Art, hier eine wirkliche Einheit, nicht nur eine Reihe mit
Anfang und Schluß zu bilden, ist natürlich auch wieder nur die
Zentralisation in der »Idee«, wie der alte, vielfach einseitig mißver-
standene und mißverständliche Ausdruck lautet. Konstruierend erfunaene
oder kausal aufzeigende Abhängigkeitsreihen können zu diesem Ganzen
führen, die rein assoziierend verknüpfenden Ketten dagegen führen
nicht zu einer das Ganze übergreifenden Einheit. Die Dichtung ist
Sprachgestalt und empfängt aus den Gesetzen der sprachlichen Ein-
heitsbildung ihr Gesetz.

Zwei Bestandteile fanden wir .vorhin in Otto Ludwigs Analyse:
Formstücke und vereinheitlichende Idee. Das sind Bestandteile, die
ein im Praktischen Beobachtender stückweis auffindet, wenn er unge-
fähr kritisch sortiert, aber es sind natürlich keine Elemente, aus denen
sich letzten Endes der Aufbau fügt. Die Quellen, aus denen beides
fließt, suchen wir mit folgender Betrachtung auf: jeder Mensch sammelt
im Laufe der Zeit einen Schatz von Erfahrungen, das sind Erinne-
rungsbilder von Personen, Tieren, Sachen, Situationen, Vorgängen,
gedankliche Verarbeitungen von Erlebnissen, gedankliche Deutungen
und Urteile über Menschen und Dinge, über Ereignisse im einzelnen
und den Weltlauf im allgemeinen, Strebungen und Gefühle, Willens-,
Wert- und gefühlsmäßige Stellungnahmen, kurz eine Unsumme ver-
arbeiteten oder nicht verarbeiteten Erlebnismaterials, kann man sagen.
Erfahrungen liefern dem Künstler Stücke teils zu unmittelbarer Wieder-
gabe des Geschauten oder Erinnerten, teils zu gedanklicher Verarbei-
tung, umgekehrt drängen Überlegungen, Einsichten, theoretische An-
sichten, Gefühle oder Wünsche des Künstlers zur Umsetzung in
schaubare Gestalt. Ich stelle mir den Prozeß als eine fortgesetzte
Metamorphose vor, Veranschaulichung des Allgemeinen und Verallge-
meinerung des Einzelfalles. Der Dichter sieht Menschen, abstrahiert
Eigenschaften, Gestalt- und Wesenseindrücke und verarbeitet sie
 
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