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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Glockner, Hermann: Philosophie und Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0193
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PHILOSOPHIE UND DICHTUNG. jgg

einem tiefen und generellen Grunde in uns hervor, der von sich aus
ihren Inhalt rechtfertigte. Vielleicht liegt hier auch der Fruchtboden der
Kunst«1). Die Griechen sind also deshalb das philosophischste und das
poetischste Volk gewesen, weil in ihnen der Besitz dieses »Dritten« —
ich möchte sagen: Nationalcharakter gewesen ist. Aus diesem Grund
hat auch jede der flüchtigen Formen, die ihr Geist prägte, etwas »Typi-
sches« und die gemeinsame Wurzel aller seiner Gestaltungen, die uns
auch das Gebrochene, das Zerrissene, das Widerspruchsvolle, als eine
künstlerische Einheit erscheinen läßt, ist hier zu suchen. »Es wird
nicht Tag werden in der ewig ringenden Platoforschung«, meint Joel,
»als bis man den größten Philosophen der Antike als Dichter begriffen
hat.« Ich möchte dies von meinem vorgetragenen Gesichtspunkt aus
dahin mäßigen, daß Piaton in seinen Dialogen in allerdings einzig-
artiger Weise an der ursprünglichen Gabelung steht und der Geist,
der in ihnen lebt, befindet sich gleichsam noch vor der Entschei-
dung, ob er in poetischer oder philosophischer Weise
an den Tag treten soll. Denn Dichten und Philosophieren
(Dichten hier im weitesten Sinn eines künstlerischen Hervorbringens
überhaupt verstanden!) sind die beiden Formen, in denen sich die
ursprüngliche Fähigkeit einer typischen Geistesbewegung auslebt. Sie
werden notwendig nah verbunden und eng miteinander verknüpft sein,
wenn die gemeinsame bewegende Kraft die Triebfeder einer glück-
lichen Volksgemeinschaft bildet, wie dies bei den Griechen in einer
später nie mehr erreichten Weise der Fall war, so daß man sie mit
Recht das Volk der Genies genannt hat — getrennt aber, und nur
durch ein mühsames Rückwärtssichversenken in die letzten Quellen
der schaffenden Kraft zu erreichen, wenn das Talent künstlerische
Weltvisionen zu gestalten, oder die Fähigkeit die mit einem bestimmten
auf die Ganzheit der Lebenserscheinungen gerichteten Organ aufge-
faßte Welt begrifflich nachzubilden, zu gewaltsam emporgetriebenen
Einzelerscheinungen werden, die in einsamer Höhe über ihren Zeit-
genossen stehen und nach rückwärts und vorwärts schauen müssen,
um ihresgleichen zu begegnen. Doppelt getrennt und geschieden aber,
wenn der forschende Denker auf das in seiner Ganzheit erlebte Bild
der Wirklichkeit zu verzichten beginnt und das Denken selbst zum
Gegenstand seines Denkens macht! Es ist rührend zu lesen, daß
Sokrates, der Verkünder der absoluten Unabhängigkeit des Gedankens,
dessen welthistorische Tragödie und Schuld in dieser Hinsicht Hegel
zuerst erkannte2), kurz vor seinem Tod aus dem Gefühl einer gewissen

1) Simmel, Hauptprobleme der Philosophie S. 25 f.

2) »In Sokrates hat sich der Gedanke selbst erfaßt und sich über die schöne
 
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