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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Merk, Heinrich: Probleme der literarischen Kritik bei Aug. Wilh. Schlegel
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0223
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BEMERKUNGEN. 219

nisse daher unvollkommen; der Bekenntnischarakter überwiegt. Wir sprechen deshalb
auch, wenn wir uns streng ausdrücken, nicht von der Richtigkeit, sondern von der
Fruchtbarkeit einer Kritik. Wir sagen: Sie ist ihres Gegenstandes würdig; sie ent-
spricht ihm, sie ist ihm angemessen. Die Grundfrage ist daher: Wie können diese
Schranken der Subjektivität überwunden werden? Wenn eine Theorie der Poesie
aufgestellt werden soll, so darf sie nicht aus den individuellen Eigenschaften eines
einzelnen, sondern muß aus den Forderungen der menschlichen Natur überhaupt
abgeleitet werden. Welche Schwierigkeiten sich hier entgegenstellen, können wir
bei jeder Gelegenheit beobachten. Wir schweigen von den Hemmungen, die wir
zu überwinden haben, wenn es sich um ein Werk einer fremden Kultur, einer
fernen Vergangenheit handelt. Schlegel weist nachdrücklich darauf hin, wie schwierig
es ist, ein solches Werk aus seinen historischen Bedingungen heraus kritisch zu
würdigen (Kr. Sehr. I, 27 f,; II, 94). Die Literatur- und Kulturgeschichte muß dabei
ergänzend und berichtigend eingreifen (vgl. K. 253; B. V. I, 26 f.). Der Kritiker
gliedert aber seinen Gegenstand nicht nur in einen objektiv-historischen Zusammen-
hang ein, d. h. er betrachtet ihn nicht nur nach den näheren Umständen, unter denen
er entstanden ist, sondern er sucht zugleich die Eindrücke, die er empfängt, seinem
eigenen geistigen Besitzstand anzupassen. Er legt an jede neue Erscheinung Maß-
stäbe an, die er seinen bisherigen Erfahrungen entnimmt. Das Urteil wird also ver-
schieden sein, je nach der Entwicklung des Urteilenden. »Solange die Gegenstände
der Vergleichung mit dem vorliegenden nur diejenigen sind, die sich gerade vor-
finden, die wir so zufällig gesammelt haben, bleibt das Urteil immer bloß subjektiv;
objektiv, über unsere Person hinaus gültig, kann es nur dadurch werden, daß die
Vergleichung mit solchen Gegenständen angestellt werde, die wirklich dazu ge-
hören und einen wahren Maßstab der Vollkommenheit abgeben können, welches
denn keine andere ist, als die vortrefflichsten Werke derselben Kunst in verschiedenen
Gattungen« (B. V. I, 26). Auch diese »Vergleichung« ist natürlich für Schlegel nur
ein unvollkommener Ersatz für die fehlende Theorie. In welchem Sinne er diesen
Begriff, der leicht mißverstanden werden kann, genommen haben will, zeigt z. B.
seine Kritik von »Hermann und Dorothea«. Er geht hier von einer Betrachtung des
epischen Gedichtes aus, wie es in Homers Werken verkörpert ist, um von hier in
den Sinn von Goethes Dichtung einzudringen. Diese »Vergleichung mit klassischen
Vorbildern« besteht jedoch nicht darin, daß der Kritiker den griechischen und den
deutschen Dichter gegenüberstellt, sondern das Homerische Gedicht ist für ihn nur
der Fundort des epischen Gedankens. Diesen allein will er ergründen, um Goethes
Schöpfung zu würdigen.

Die Schwierigkeiten, die wir hier erörtert haben, sind jedoch nur von sekundärer
Bedeutung gegenüber dem Problem: Was berechtigt uns überhaupt, für unsere kriti-
schen Urteile allgemeine Anerkennung zu beanspruchen? Wir haben bereits darauf
hingewiesen, wie wichtig es ist, daß der Urteilende »in jedem Augenblicke die
reinste und regste Empfänglichkeit für jede Art von Geistesprodukt in sich hervor-
rufe«, daß er »alles, was bloß von der Stimmung herrührt«, von der Kunstbetrach-
tung ausschließe (B. V. I, 26; K 253). Der Kritiker soll ein Kunstwerk mit dem
Gefühl aufnehmen; er soll aber dabei, wie Schlegel hervorhebt, nicht als Individuum,
sondern als Mensch affiziert werden. Er darf sich darum nicht von Stimmungen,
d. h. von zufälligen, rein persönlichen Gefühlszuständen bestimmen lassen. Alle
diese Zufallsmomente müssen ausgeschaltet werden. Es wird eine Allgemeingültig-
keit der Gefühle, eine Gefühlsobjektivität gefordert. Für den Aufbau der Poetik
stellt Schlegel gelegentlich den Satz auf, daß sie »aus dem reinen Objekt, aus dem,
was der Mensch ohne alle empirische Bestimmung an sich ist, schöpfen müsse«
 
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