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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Merk, Heinrich: Probleme der literarischen Kritik bei Aug. Wilh. Schlegel
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0224
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220 BEMERKUNGEN.

(K. 250). Seine Anschauungen münden damit ein in Kants Begriff der »subjektiven
Allgemeinheit«'). In unserer Zeit haben im Anschluß an Fichte vor allem Husserl
und Lipps diese Lehre weiterzubilden versucht: Bei jedem logischen, ethischen oder
ästhetischen Urteil wird aus dem empirischen, individuellen Ich das »reine«, »über-
individuelle« Ich herausgelöst. Alles, was wir als »Norm« bezeichnen, was allge-
meine Gültigkeit beansprucht, hat hier seinen Ursprung, nimmt von hier seine ver-
pflichtende Kraft. Diese Antwort ist natürlich keine »endgültige« Lösung, sondern
eine neue Problemstellung. Schließlich ist jede wissenschaftlich bedeutsame Antwort
nur eine neue Problemstellung auf einer höheren Stufe. Die Annahme einer »sub-
jektiven Allgemeinheit«, eines »reinen Ich« ist mit unverkennbaren Schwierigkeiten
belastet. Vor allem dürfte sie ziemlich unfruchtbar und logisch nicht ganz unbe-
denklich sein. Unser Urteil kann Allgemeingültigkeit beanspruchen, wenn das »reine
Ich« urteilt. Wann aber ist dies der Fall? Das Kriterium hiefür fehlt. Oder soll es
die tatsächliche Anerkennung sein? Wenn man sich nicht in einen Zirkelschluß
verlieren will, gerät man in metaphysisches Nebelreich. Karl Oroos bezeichnet die
Hypothese eines »zeitlosen überindividuellen Bewußtseins« mit Recht als »ein dünnes
und schwankes Seil, das über dem ,Abgrund der Metaphysik' ausgespannt ist«2).

Gerade für den Kritiker, der über seine Tätigkeit nachdenkt, müssen diese
Probleme und die darin verborgenen Widersprüche von Bedeutung sein.

Eine Kunstschöpfung ist keine schemenhafte Idee, sondern greifbare Wirklich-
keit. Aus dem Persönlichsten eines Künstlers ist sie hervorgegangen; nur in einem
reich ausgeprägten Seelenleben kann sie wieder lebendig werden. Und doch suchen
wir gerade in der Kunst überall den »typischen Fall«. Wir fordern von einem Kunst-
werk, daß es mehr sei als ein Werk der Willkür und des Zufalls; wir verlangen
vom kritischen Urteil, daß es nicht von Laune und Stimmung diktiert werde.

Sind mit dieser Gegenüberstellung Gegensätze aufgestellt? Ist das Typische die
Aufhebung des Individuellen oder erst dessen eigentliche Vollendung? Ist es nur
eine wirklichkeitsfremde Abstraktion oder der tiefere Sinn aller konkreten Erschei-
nungen? Jeder Versuch, Allgemeingültiges zu schaffen, Maßstäbe und verpflichtende
Forderungen zu formulieren, endigt mit solchen Fragen.

Schlegels kritische Grundgedanken, die er aus einem umfassenden Material
herausgearbeitet hat, sind ebensowenig, wie die neuesten Untersuchungen auf diesem
Gebiete, befriedigende Antworten; aber sie sind Beiträge zur Entwicklung der ästhe-
tischen Probleme, die nicht übersehen werden dürfen.

') Vgl. Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 340 f.
-) Vgl. K. Groos a. a. O., S. 502.
 
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