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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Klaiber, Hans: Die lyrische Stimmung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0248
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244 HANS KLAIBER.

und einen eigenen Wert gleich kostbaren Steinen, die noch nicht ge-
schliffen und noch nicht in Armspangen, Ketten und Ringe gefaßt
sind. Sie entzücken den Kenner, der, aufmerksam geworden, sie aus
ihrem Versteck ans Licht zieht« (Gautier). Bei manchem dieser Sprach-
juweliere ist die Kennerfreude am Klangwert des Wortes zur Gleich-
gültigkeit gegen Sinn und Bedeutung geworden, so daß dem Nicht-
eingeweihten ein Verstehen kaum mehr möglich ist, da die sprach-
lichen Ausdrucksmittel nicht durch den Zusammenhang der Vorstel-
lungen und Gefühle, sondern durch die Forderungen melodischer und
rhythmischer Effekte bestimmt werden. Wohl ist es im Wesen der
lyrischen Kunst begründet, wenn sich der Dichter der musikalischen
Hilfsmittel zum Ausdruck seiner Gefühlserlebnisse gern bedient, und
es kommt seinen Wirkungen zustatten. Aber es gab und gibt Lyriker,
bei denen das musikalische Element stark in den Hintergrund tritt, ja
es kann, abgesehen vom Rhythmus in seiner elementarsten Form, —
davon ist später ausführlicher zu sprechen — ganz fehlen, ohne daß
man solchen Gebilden den Charakter echter lyrischer Stimmung ab
streiten dürfte. Es ist tatsächlich möglich, zum mindesten gewisse
lyrische Stimmungen durch entsprechende Auswahl und Anordnung
der gefühlstragenden Sprachvorstellungen auch ohne sie zu erzeugen,
mag sj£fi auch der Dichter dabei erprobter Hilfsmittel begeben: Das
Wesen der lyrischen Stimmung ist nicht unbedingt an sie gebunden,
so adäquat sie ihr auch sein mögen. Jedenfalls führt uns eine Be-
trachtung der Wesensunterschiede zwischen Musik und Sprachlyrik1)
besser zum Ziel als eine Gleichsetzung der beiden Künste auf Grund
gewisser Übereinstimmungen. Dabei muß natürlich die absolute Musik
zugrunde gelegt werden, nicht etwa Lieder- oder Opernkomposition;
denn in diesen Gattungen hat sich bereits ein Kompromiß zwischen
Tonkunst und Sprachdichtung vollzogen, bei dem die Musik allerlei Zu-
geständnisse an die poetische Form auf Kosten ihres Eigenwesens macht.
Wie es in der Lyrik eine musikalische Richtung gibt, so vertritt umge-
kehrt die lyrische Stimmung nur einen Typus des Musikers bzw. ein zeit-
weiliges Verhalten des Tonkünstlers, der daneben »auch anders kann«.
Wollten wir den lyrischen Dichter unter einen jener Typen künstlerischer
Tätigkeitsformen, wie sie z. B. Müller-Freienfels aufgestellt hat, einreihen,
so müßten wir ihn doch wohl zu den subjektiven, rezeptiv-sensiblen
Ausdruckskünstlern rechnen, wobei innerhalb der Gattung natürlich
ein mehr oder weniger bei den einzelnen Eigenschaften möglich ist
und je nach der Vorliebe für Bewegung oder Zuständlichkeit, für geistige

') Vgl. Th. A. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 207, mit der Polemik gegen
Vischer.
 
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