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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0346
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342 BESPRECHUNGEN.

z. B. der reif donatelleske »Johannes der Täufer«. Hier muß freilich darauf ge-
achtet werden, daß Grautoff den Willen stark intellektualisiert (S. 7 f., 56 »aus dem
Verstand und damit aus dem Willen . . . abgeleitet«, vgl. S. 9, 17). Dieser Wille
geht über Kant noch weiter zu Spinoza zurück. Er hat mit (mathematischer) Form-
gesetzlichkeit mehr inneren Zusammenhang als der vom Lebensdrang erfüllte Wille
Schopenhauers-Nietzsches. Auch das will berücksichtigt sein, daß Grautoff Gefühl
und Wille nicht schlechthin antinomisch entgegensetzt: »Ich unterscheide«, schreibt
er, »einen Stil, dessen Ausdrucksformen der Wille prägt, und einen Stil, der durch
das Gefühl seine Form erhält, dazwischen einen Stil, in dem Ausdrucksformen des
Willens und des Gefühls nebeneinander auftreten, und über den beiden Grundstilen
einen vierten, in dem Wille und Gefühl zu einer Synthese ineinanderwachsen«
(S. 7). Solche Synthesen sieht Grautoff in der Antike, in der Renaissance und auch
in der Gotik (S. 22). Von letzterer meint er sogar, daraus, daß Wille und Gefühl
»auf ihrem Höhepunkte gleich stark beteiligt waren« (doch S. 13), indem »die ab-
strakten Forderungen von konkretem Leben ganz erfüllt« waren, daraus lasse sich
erkennen, daß die Gotik in keinem prinzipiellen Gegensatz zu einer der andern
Perioden stehe.

Ob nicht gerade von diesem Punkte aus sich Bedenken erheben gegen die Ab-
leitung der Stilentwicklung aus den inneren Faktoren »Wille und Gefühl«? Man
möchte fragen, wo ist dann das »Individuationsprinzip« für die einzelnen Formen
der Synthese zu suchen? Grautoff unterscheidet das eine Element wohl in das
seelisch-transzendente Gefühl der Gotik und in das sinnliche Gefühl der Renais-
sance (S. 24 f., z.v. 16). Gewiß keine dialektische Begriffsspaltung, wenn auch die
allgemeine Psychologie diese Differenzierung nicht kennt. Aber die Synthese läßt
ihn doch auch sie wieder vereinen (S. 24).

Dieser, vielleicht darf man sagen, nivellierenden Angleichung der Grundelemente
in der Synthese steht aber doch die Hauptthese gegenüber, daß formauflösende
Tendenzen nur innerhalb einer reinen Gefühlskunst zum Durchbruch kommen
können (S. 40). Das lehrt der Verlauf jeder Kunstepoche. In diesem großen Zug
und in dieser Weite wird man der These mehr Bedeutung zusprechen können als
der Beschreibung der Gefühlskunst (auf S. 10 f.), die sie begrifflich unterbauen soll.
Der Dualismus von Wille und Gefühl im Sinne der inneren Bedingungen für
die Stilformen des Formbaues und der Formzertrümmerung ist trotz der Aufstellung
der synthetischen Stilform das, was den Verfasser — wenigstens in dieser Schrift —
hauptsächlich interessiert. Und dabei wendet sich seine Aufmerksamkeit der Form-
zertrümmerung noch ganz besonders zu. Unter diesem Gesichtswinkel sieht Grau-
toff die spätrömische Kunst: »Die Geschichte der spätrömischen Kunst zeigt die
Entwicklung der Formenzertrümmerung innerhalb der antiken Tradition« (S. 37).
Und fortschreitende Formauflösung ist für Grautoff auch die Signatur der modernen
Kunst vom 16. und 17. Jahrhundert an (ebenda). Wenn auch Schichten wie das
Ideal der Akademien des 17. Jahrhunderts, der Klassizismus vom Ende des 18. Jahr-
hunderts und der Akademismus des 19. Jahrhunderts sich quer zwischen die Phasen
der Entwicklung schieben, schließlich siegt doch der Impressionismus mit der Auf-
lösung der Einzelform (S. 37—48), dessen Werk der Expressionismus zu Ende führt
mit der Zertrümmerung der Bildform (S. 49—56). Es steckt gewiß ein guter Kern
in der Behauptung: »Unter dem Gesichtspunkt der Zersetzung jeglicher Stabilität
ist der Expressionismus keine Gegenbewegung des Impressionismus, sondern seine
logische Fortführung, in deren Verlauf die Formauflösung bis zu ihren letzten
Konsequenzen getrieben wird (S. 49; z.v. S. 47). Nur geht Grautoff nach unserem
Urteil doch zu weit, wenn er schließlich meint: »Sowohl der dingbefreite als auch
 
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