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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0353
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BESPRECHUNGEN. 349

gleichsam malerischen Raumerfassung geworden war, »desto mehr sahen sie sich
nach Gesetzen und Regeln um«, um ein Goethesches Bekenntnis zu paraphrasieren.

Theuer findet als Geschichte der Proportionierung eine allmähliche Entwicklung
zu einem kanonischen Gebrauch, der sich dann lockert. Glaublich genug, wenn
nicht so manche Einzelfälle dieser wohl noch verfrühten Statuierung widerstrebten!
In den Vordergrund seiner Ergebnisse stellt er jedoch zwei Beobachtungen anderer
Art: bei männlichen Gottheiten liegt das Grundverhältnis im Stereobat, bei weib-
lichen im Stylobat, bestimmte Grundverhältnisse sind bestimmten Gottheiten eigen,
z.B. 2x5 dem Apollo, 5x11 dem Zeus, 3x8 der Hera. Die Zahl der Beispiele
genügt, um das erste Resultat zu sichern, wenn auch der kultische Grund für eine
solche Unterscheidung schwer zu finden sein wird. Anhalte und Übereinstimmungen,
die Theuer zu seiner zweiten Feststellung führten, können Zufall sein. Es ist
wenigstens auffallend, daß sich keine historische Entwicklung bis zu einer solchen
Zueignung bestimmter Zahlenverhältnisse an Gottheiten zeigen will. • Denn auch
griechische Götter werden nicht mit Zahlen geboren. Verschwiegen darf jedoch
nicht werden, was Theuer entgangen ist, daß unter den Pythagoräern hauptsäch-
lich Philolaos einzelne Gottheiten mit den Innenwinkeln bestimmter Vielecke identi-
fizierte (Diels, Vorsokratiker 81 305), wobei an die oben festgestellten Beziehungen
dieser Innenwinkel zu den Grundverhältnissen dorischer Peripteraltempel zu erinnern
ist. Wie auch die Zukunft entscheiden mag, es handelt sich hier um so geringe
Differenzen, daß die Anwendung verschiedener Grundverhältnisse in Stereobat oder
Stylobat für den ästhetischen Eindruck irrelevant bleibt, höchstens eine etwas ver-
schiedene Formulierung des Vorstellungsbildes verlangt, im übrigen aber individuellen
und zeitgeschichtlichen Neigungen freien Spielraum läßt. Es handelt sich mehr
nur um eine Gepflogenheit auf einem Gebiet, das der rein künstlerischen Betätigung
schon oder noch ganz fern liegt.

Heidelberg. Bernhard Schweitzer.

Hans Lorenz Stoltenberg, Reine Farbkunst in Raum und Zeit und
ihr Verhältnis zur Tonkunst. Leipzig, Verlag Unesma, 1920. 8". 36 S.

Eine reine Farbkunst möchte man uns heute schaffen, wie es eine reine Ton-
kunst gibt. Die expressionistische Kunstbewegung, und innerhalb dieser breiten,
historisch verankerten Bewegung, hauptsächlich die futuristische und kubistische
Strömung, haben uns zu einer Eigenbewertung der Farbe in der Kunst hingeführt,
wie wir sie früher nicht kannten. Diese Fähigkeit, die Mächtigkeit der Farbe als
einen unerhört starken Anreger von ganz selbständiger Bedeutung zu empfinden,
ihn auf allen Gebieten des künstlerischen und praktischen Lebens zu entschiedener,
von irgendwelcher dinglichen Beziehung losgelösten Mitwirkung gelangen zu lassen,
war in uns vorbereitet worden schon durch die Kunst des Impressionismus. So ist
es wohl eine natürliche Folge dieser langanhaltenden Übung und Verfeinerung
unseres Farbensinns und unseres Farbensehens, daß wir der Farbe an sich dieselbe
Geistigkeit zuerkennen möchten wie dem Ton an sich, daß wir Farbensymphonien
möchten lernen zu erleben mit der geistigen Tiefe und Beziehung, mit der wir
Tonsymphonien erleben.

Die kleine Schrift von Hans Lorenz Stoltenberg: »Reine Farbkunst in Raum
und Zeit und ihr Verhältnis zur Tonkunst« sucht das Recht einer reinen Farbkunst
zu begründen aus der Verwandtschaft des reinen (d. h. von jeder dinglichen Be-
ziehung losgelösten) Tonempfindens mit dem reinen Farbenempfinden, sowohl ihrer
Entstehung als ihrer Beschaffenheit nach, und hier kommt es ihm vor allem darauf
 
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