Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0477
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BESPRECHUNGEN.

473

samkeiten enthüllen. Vor allem: ist nicht den Frauengeslaiten beider, die in der
Erotik so entgegengesetzt waren, derselbe Glanz eigen bei allem »Realismus«? Was
unterscheidet die Frau Regel Amrain von Dorothea, der Geliebten Hermanns? Das
junggesellentum Kellers wäre also vielleicht nur eine Anekdote im Verhältnis zu
seiner Kunst? Ich will es nicht behaupten. Aber es scheint mir, als ob man häufig
zu schnell Kunst und Leben eines Dichters in Zusammenhang bringt, ohne zu
fragen, ob nicht ein entgegengesetzt gerichtetes Leben zu verwandten Kunstgebilden
führen könnte. Hochdorf hätte vielleicht besser auch den Schein vermieden, als sei
Kellers Liebesunglück irgendwie als Mangel aufzufassen. Eine solche Bewertung
entspränge nicht einer »Weltanschauung«, sondern, wie er an einer Stelle mit glück-
licher Entgegensetzung sagt, einer »Schlafstubenanschauung«.

Hochdorf konstatiert in Keller einen »Zwiespalt zwischen der sehenden Er-
kenntnis und der Manier des formenden Schaffens«. Der Verfasser des grünen
Heinrich wittert Neuland, aber er entsetzt sich, wenn er wahrnimmt, daß er schon
hineingeschritten ist. Er mildert, also verhüllt. Hochdorf zeigt das Zunehmen dieser
verklärenden Tendenz an den beiden Fassungen des großen Lebensromans. Was
ist der junge Keller? Jedenfalls kein Romantiker. Selbst der Verfasser des Martin
Salander aber ist kein Realist. Kellers Stil ist ein Lustwandeln zwischen Romantik,
Realistik und Naturalistik. Hochdorf stellt das Gedicht: Die Spinnerin (1844) ver-
gleichend neben die Huldaepisode des grünen Heinrichs (um 1880) und findet trotz
dem Abstand der Jahre ein gleiches; dort eine echt romantische Metapher (»des
Lebens Myrthenkränze«), hier die Scheu vor dem naturalistischen Ausdruckmittel,
die die Prostitution der Arbeiterin mit Mondschein verschleiert. — Diese Beobach-
tungen, mögen sie auch oft etwas pointiert vorgebracht werden, weisen in der Tat
auf das Hauptproblem der Kellerschen Darstellung hin. Ich sehe dieses Problem
;n der Frage: inwieweit beruht Schönheit, Ruhe und Geschlossenheit der Kellerschen
Dichtung auf einen Mangel? Ist sie aus Fülle hervorgegangen oder wird sie (zum
Teil wenigstens) der Flucht vor der Wirklichkeit verdankt? Die Antwort Hochdorfs
ist etwa die: Keller zögert, seinen naturalistischen Neigungen nachzugeben. Was
als strenge Wahrheit voraus berechnet war, wird oft nur »artige und selbst idyllisch
gleißnerische Abenteuerei«. Der junge Dichter (erste Fassung des grünen Heinrich)
wie der alte (Entwurf zum Martin Salander) mit ihrer »Untertänigkeit vor dem Wirk-
lichen« überwiegen den Keller der mittleren Zeit »der Legendenstimmungen und
der Lustfahrten durch Traumland und Phantastereien, die nicht im Gelände des Ver-
nünftigen anzusiedeln sind«. Was zwischen den beiden großen Romanen liegt, »die
Lieblichkeit der Legenden, die Launigkeit der Seldwyler Geschichten, die Lehrhaftig-
keit des Sinngedichts, die Erbaulichkeit der Züricher Novellen« erscheint Hochdorf
wie ein köstliches Abenteuer. Der Dichter hat in ihnen Kunststile erprobt, die ihm
fremd waren. Das Endurteil lautet also: Kellers Formensprache ist stellenweise
noch romantisch. »Der Pfadfinder auf einer sehr irdischen Welt kommt zeitweilig
von den romantischen Stilmitteln nicht los«. Seine Formgebräuche sind streng von
seinem Geist zu unterscheiden. Diesen eigentlichen Geist Kellers erblickt Hochdorf
in den kühneren, naturalistischeren Bildern des ersten grünen Heinrichs und des Sa-
Ianderentwurfs, nicht in dem des zweiten grünen Heinrichs und den vielbewunderten
Legenden.

So interessant die Herausarbeitung dieses verborgenen rücksichtslos »naturalisti-
schen« Kellers ist, scheint mir, hat Hochdorf dem Problem, um das es sich eigent-
lich handelt, durch sein Werturteil die Spitze abgebrochen. So wenig es angeht,
auf den ersten grünen Heinrich und die Salanderentwürfe allein eine Theorie des
Kellerschen Geistes zu gründen, so wenig kann man den Dichter der Legenden
 
Annotationen