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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0481
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BESPRECHUNGEN. 477

aus der antiken Tragödie übernommen, dies hat jedoch in der Entwicklung der
deutschen Literatur unheilvolle Früchte gezeitigt. Andererseits ist durch Schillers
Vereinigung von sittlichem Pathos und »hohem Stil« die literarische Bildung aus-
schlaggebend beeinflußt und an das Tragische wie Heroische gewöhnt worden, zu-
gleich hat er durch starke Betonung des Allgemeinmenschlichen und des über den
Einzelfall Hinausgehenden am dramatischen Geschehen das Publikum zu dichterischem
Interesse, zu nicht nur stofflicher Aufnahme, zu symbolischer Betrachtung gezwungen.
Dies ist immerhin eine wichtige Folge von Schillers Beziehung zur griechischen
Tragödie für die deutsche Geisteskultur, mögen die sentenziösen Allgemeinwahrheiten
seiner Dramen noch so sehr verflacht worden sein — ihr Betonen hat der Wahrung
dessen gedient, was Schiller als die Idealität der Kunst fordert.

Dies hat die Verfasserin gezeigt, mit einem tiefen Blick für geistesgeschichtliche
Zusammenhänge und für das Wesen der dichterischen Schöpfungsarten. Darin
schuldet die Arbeit in mancher Hinsicht Friedrich Gundolf Dank, obwohl sie durchaus
eigene wertvolle Gedanken entwickelt. Die wissenschaftliche Gründlichkeit wird
auch bei diesem Problem, dessen Tragweite über den engen Stoffkreis hinausreicht,
zu einer selbstverständlichen Voraussetzung. Nachdem in einem ersten Abschnitt
Schillers Beschäftigung mit der griechischen Tragödie in chronologischer Übersicht
dargestellt und im besonderen an seinen Euripidesübersetzungen untersucht wird,
behandelt der zweite die griechischen Elemente in Schillers Dramen nach Form und
Gehalt. Von hauptsächlicher Wichtigkeit ist der letzte Abschnitt über den Anteil
der Tragödie an dem Stilwandel der Schillerschen Dramen. Wir wollen die aus-
gezeichnete Arbeit im einzelnen besprechen.

Der erste Abschnitt zeigt, daß es Schiller nicht daran lag, restlos in die
griechische Tragödie einzudringen, sondern bestimmte, ihm gemäße Züge als Weg-
weiser für sein dramatisches Schaffen zu nutzen. Schiller, dessen griechische Sprach-
kenntnisse sehr gering waren, hat die Tragödie in französischer Prosaübersetzung
des Petrus Brumoy kennen gelernt und zwar zunächst den Euripides. Trotzdem hat
Schiller bei der ersten oberflächlichen Bekanntschaft schon den bewußten Willen, sie
für die eigene Dramatik auszubeuten, er verspricht sich griechische »Manier« und
übersetzt aus diesem Grund auch die Iphigenie des Euripides. Durch Humboldt
und Goethe angeregt, beschäftigt er sich gründlicher mit der Tragödie, gelangt aber
nicht zu einer vollen Erfassung der griechischen Sprache und damit — wie ich hin-
zufüge — der griechischen Seele. Mit Recht darf es als notwendiger Ausdruck von
Schillers Griechenfremdheit und nicht als Zufall angesehen werden, daß er sich in
den entscheidenden Jugendjahren nicht mit griechischer Dichtung abgegeben, und
daß ihn späterhin sein Instinkt an der näheren Berührung mit griechischem Sprach-
geist verhindert hat. Trotzdem wird Schillers Verhalten zur Tragödie von 1794 ab
theoretisch und von 1797 ab produktiv bedeutsam für seine geistige Haltung, man
meint aus seinen Briefen »unmittelbar zu spüren, wie etwas von der Luft der
griechischen Tragödie, die ihn so fortdauernd umgab, in seine eigenen Dramen ein-
strömen mußte« (S. 14). Freilich ist es nur etwas, nur eine Reihe von Zügen aus
dieser Atmosphäre. Eine Einwirkung kommt erst für die Dramen der Reifezeit in
Betracht, wobei Schiller immer noch auf Übersetzungen angewiesen ist. An einem
Vergleich mit Hölderlin und Humboldt wird noch offenbarer, daß es sich bei
Schiller um Mangel an Wahlverwandtschaft und Abneigung gegen griechisches
Sprachgefühl handelt. Denn wir können bei einem produktiven Künstler wie Schiller
Geist und Sprachform unmöglich trennen (S. 27). Dies zeigt sich auch an den
Euripidesübersetzungen: der wechselnde Rhythmus als Ausdruck dramatischer Be-
wegung und menschlicher Individualisierung, in »Iphigenie« und den »Phönizierinnen«,
 
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