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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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Schmarsow, August: Gemeinschaft der Sinnesgebiete im schöpferischen Akt
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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0019
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GEMEINSCHAFT DER SINNESGEBIETE IM SCHÖPF. AKT.

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Systems für Reize, denen wir all unsere Empfindungen und damit unsre
Erlebnisse verdanken. Schon zur Anpassung an unsre Umwelt hilft uns
aber die erst neuerdings gebührend beachtete „kinästhetische" Anlage, die
jede Bewegung der Gliedmaßen wie der innern Organe, ja der Eingeweide
begleitet, und scheinbar nur dem „Unterbewußtsein" heimlich überant-
wortet, in Wirklichkeit aber wundersame Leistungen vollbringt oder er-
reichen hilft. Ist sie es nicht, die unsere Aufrechterhaltung des empor-
gerichteten Körpers im Kampf gegen das herabziehende Schwergewicht
zustande bringt, im Dienst der feinsten Kontrollstellen auf beiden Seiten
unseres Kopfes? Sie soll uns auch die tatsächliche Gemeinschaft zwi-
schen den Sinnesbereichen unter Leitung des Gehirns erklären helfen.
Und damit erst gelangen wir über die Parigkeit des „Zeitsinnes" und
des „Raumsinnes" hinaus, die in der Zusammenfassung des Gedächt-
nisses eine höhere Instanz gewinnt.

Die Zeit hat nur eine Dimension, deren Verlauf wir spüren, aber nicht
sehen können, also auch nicht verfolgen. Der treffendste Versuch, ihn ins
Sichtbare zu übertragen, bleibt immer der schwarze Faden im Nadelöhr,
den wir Punkt für Punkt hindurchgleiten lassen, indem wir die Stelle
seines Eintritts in das Löchlein fixieren, den deshalb schwarzen Faden
aber, vorn wie hinten, unserm Auge möglichst entziehen. Und diesen ver-
schwindenden Punkt nennen wir Augenblick, ohne recht zu beden-
ken, daß wir damit blindlings dem Vorrang des Gesichtssinnes gehor-
chen, dem auch die Muttersprache nachgegeben hat. Und wir meinen
doch damit ein allerkleinstes Partikelchen der Zeit, die punktuelle Gegen-
wart, die selbst nichts sei als der Wendepunkt zwischen Vergangenheit
und Zukunft. Wenn wir, der Unsichtbarkeit des Leitfadens zum Trotz,
für den Fortgang doch eine Ausdehnung von erfaßbarer Länge zu be-
sitzen glauben, so kann dies abgerissene Endchen doch nur ein unter-
geschobenes Gesichtsbild sein, dessen Auftauchen an dieser Stelle nicht
ohne Beihilfe des Gedächtnisses erklärt werden darf, d. h. aus einem Vor-
rat bei andrer Gelegenheit aufgesammelter Eindrücke stammen muß, —
ein Unterschiebsei also aus der fremden Sinnesregion, das dem
Musiker vielleicht eher als Ton zufließt, dem Pianisten als Spanne sei-
ner Hand oder als Fingerspiel auf dem Tisch statt auf den Tasten seines
Instruments, d. h. als Vorausnahme der Möglichkeit vor dem Vollzuge.
Das Gedächtnis liefert somit eine verschwindende Punktreihe oder eine
perlende Tonreihe als wären sie ein fortlaufender Faden, und diesen
nimmt unsere Aufmerksamkeit als Erwartung auf, wie der Mathematiker
eine Linie, und „projiziert" sie zugleich als sichtbare in die Raumweite,
irgendwohin, aber vor uns her, als gehöre sie zur dritten Dimension, die
wir als Weg vor uns liegend denken, gleichgut, ob sie abwärts in die
„Tiefe" oder aufwärts in die „Höhe" weiter führe, wie der Musiker auch
 
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