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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0393
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DER POETISCHE WERTMASSTAB GUSTAVE FLAUBERTS. 285

schattet von dem Leid, das uns zu jener Stunde bedrückt, gleichsam er-
hellt durch die Freude, die wir zu jener Stunde empfinden. Doch nicht
jede beliebige der sinnlich wahrnehmbaren Handlungen, die e i n uns
fremdes Ich in einem bestimmten Gefühlszustand verrichtet, ist uns
notwendigerweise ein Symbol dieses Zustandes.

Wenn ich von meinem Freund A., den ich gestern besuchte, berichte,
daß er kurz nach meinem Eintritt in sein Zimmer vom Stuhl aufstand,
zu einem Schrank ging, ein Schlüsselbund aus der Tasche zog, den
Schrank aufschloß, einen Bogen Papier herausnahm usw., so wird nie-
mand aus diesen sinnlich wahrnehmbaren Handlungen den Gefühls-
zustand der Niedergeschlagenheit erkennen können, in
dem sich mein Freund A. befand, als er diese Handlungen verrichtete.

Aus Tausenden von früheren Erfahrungen weiß ich, daß der Mensch,
der sich heute Morgen mit mir eine halbe Stunde lang im gleichen Eisen-
bahnabteil befand, ein naiver Mensch ist. Während dieser halben Stunde
verrichtete er zwar einige Handlungen, die seine Einfalt jedem Beobach-
ter geradezu aufdrängten; wird aber wohl jemand imstande sein, die Ein-
falt dieses Menschen zu erkennen, wenn ich mitteile, daß er, bevor er aus-
stieg, Koffer und Hut aus dem Gepäcknetz nahm, dS
setzte, den Koffer auf den Fußboden stellte, seine B|"m
steckte, das Futteral in der Rocktasche verwahrte usv E~~ l^/t^ü

Ich befand mich während der letzten zehn Minute E"w r*'lV>
stimmten Gefühlszustand. Eine Menge von BewuPE"-
Wahrnehmungen, Erinnerungen an Wahrnehmungen =",_
— waren mir in diesen zehn Minuten gegeben. Niei=-r g>
Vorstellung dieses Gefühlszustandes erhalten, wenn ii=- ^_
ich eine Lampe vor mir sah und ein Tintenfaß, daß u ELr CO
Uhr, Klaviertöne aus dem Nachbarhaus vernahm, c'E. _C
sonderen Klangfarbe einer gestern gehörten Stimme =_a> "g

Würde nicht jeder, der eine Vorstellung von der p E_
meines Gesichtes bekommen möchte, mit Recht sich b; E oo
gehalten zu werden, wenn ich ihm mitteilte, daß meine =_
zu meiner Nasenwurzel stehen, daß meine Stirn breiE ^ |
sie nach oben abgegrenzt ist durch Haare, die von deiE
wie meine Augenbrauen usw.?

Wenn Flaubert die „Ville-de-Montereau" in der > =~~ >v
so sind die Sinneswahrnehmungen, die er an ihr vcrE" 0
auf diejenigen beschränkt gewesen, die er auf der ei s E-
tion" mitteilt. Eine Mitteilung beliebiger Erfahrun<;=-
notwendigerweise eine Sichtbarmachung dieE_S
reiten Schiffes gewesen. E.

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