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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0087
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BESPRECHUNGEN.

71

Das musikalische Bewußtsein bearbeitet bzw. verarbeitet den akustischen Stoff
zunächst abstrakt, d. h. rein musikalisch und beziehungsfrei. Es errichtet aus dem
Ton (Naturklang), ihn in der gestaltenden Phantasie ausbauend, einen tonräum-
lichen Organismus als Tonfolge, indem es den akustischen Stoff zunächst reinigt
und ergänzt, ihn dann metrisch überhörlich macht, ihn einteilt und aufreiht, und ihn
zuoberst rhythmisch-tektonisch zu einem Tonkreis- und Gliedbausystem organisiert.
Diesen rein musikalischen Bearbeitungs- und Gestaltegang lenkt und begleitet ein
reines Formgespür, eine Gestaltwitterung. „Das ganze Gemüt" wird in strebender
wie bestimmender Richtung eingesetzt, getrieben von dem ästhetischen Gespür in
Richtung auf die musikalische Gestalt und nur auf sie in beziehungsfreier Reinheit.
Das Bewußtsein entfaltet sich rein musikalisch in seinen Kategorien und Stufen des
Bestimmens, Strebens und Spürens. Dieses rein musikalische Bewußtsein und die
von ihm erbaute klangreiche Erscheinungswelt hat in ihrer Vordergründigkeit vor
der konkreten Erscheinungswelt in sich dingliche und ästhetische Realität; kraft des
in ihr waltenden musikalischen Gedächtnisses, Willens und Spürens eine tönende
Umwelt und Ausdruck unseres eigensten Wesens neben der abstrakten optischen Ge-
staltekunst.

Hinter diesem und um dieses abstrakte, reingestaltende Musikbewußtsein herum
waltet ein einfühlendes, übertragendes, erweiterndes. Es füllt die Tongebärden- und
-gebildewelt mit konkreterem Erscheinungsgehalt, wie analog die abstrakte optische
Formwelt zur Belebung durch die Wirklichkeitsbildkunst drängt. Ihre akustische
Natur, ihr haptisch-zeitliches Wesen verweist die Musik an die Sprache als nächst-
verwandte Helferin. Das abstrakte Musikbewußtsein erweitert, konkretisiert sich
in literarisch-dichterischen Formen. Beide Formen werden wechselweise ineinander
gefühlt. Die reine Musik wandelt sich zur Programmusik, latent-konkrete Bedeu-
tungen beabsichtigend, oder (in der Vokalmusik) mit offenkundigem Anspruch auf
begrifflich bestimmte Darstellung. Sie kann solche Erweiterung und Umdeutung
ihres akustischen Körpers und seiner ursprünglichen Gebärdung nicht ohne Ver-
änderung ihrer abstrakten Baugesetzlichkeit erfahren. Aber diese Veränderung
braucht nicht notwendig Lockerung bis Auflösung der Tektonik zu sein, führt aber
häufiger dazu, als daß sie ihr Bereicherung und Verfeinerung des Ausdrucks-
apparates einträgt. Ob jener oder dieser Weg eingeschlagen wird, das entscheidet
sich an jener Stelle, wo der originale Musikgestalter, der alles seiner Musik dienst-
bar machen muß, vom gefühlsmäßig hochempfänglichen, stets ein wenig oder stärker
dilettierenden Musikeinfühler, der die Musik für andere Gestalteabsichten benötigt,
gesondert wird. Jenem kommt es darauf an, die verwirrende Fülle der konkreten
Leidenschaften und Sehnsüchte auf die wenigen, ewigen, alle einigenden Urgefühle
zurückzuführen; diese tragen kein Bedenken, die Musik den chaotischen Hinter-
gründen zu opfern, in denen die Menschheit sich berauscht und ächzt.

Das abstrakte musikalische Bewußtsein und seine reinen Erspürungen bleiben
freilich eine Idee, und dürfen nicht realiter gefordert werden, denn die reine musi-
kalische Formwelt ist unlösbar eingewachsen in den Hintergrund der Erscheinungs-
welt, in der sie aber zugleich und dennoch ihr vordergründiges, verklärendes Wirken
tätigt. Je eindrücklicher das musikalische Bewußtsein dieses entfaltet, um so musi-
kalischer, künstlerisch eigenherrlicher wirkt es, und je strenger, reiner sein abstrakter
Ausdruck gemeistert ist, um so mehr hat es auch zu bedeuten, d. h. um so be-
ziehungsreicher ist es in sich und hinüber in außermusikalische Gebiete.

Berlin. Justus Hermann Wetzel.
 
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