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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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Frydmann, Richard: Vertikaleinfühlung und Stilwillen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0143
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BEMERKUNGEN.

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sind „Temperament, gesehen durch ein Stück Natur". Und das obendrein durch
die reinste, abstrakteste Natur, welche wir kennen: durch den bloßen Raum und
die bloße Zeit. Die Musik müssen wir aus Gründen, die uns an dieser Stelle zu
weit führen würden, beiseite lassen.

Die Architektur aber gestaltet voraussetzungslos im freien Räume. Sie nimmt
nicht Umwelt zu ihrem Gegenstande, sondern sie schafft selbst Umwelt. Ihre natur-
und menschheitsgegebene Aufgabe ist eine denkbar unbeschränkteste: ein Stück
Raum ist gestaltvoll einzudecken. Einzudecken mit Material, zu welchem wir orga-
nisch-persönliche, triebhafte Beziehungen nicht besitzen, mit Stein vor allem. Der
Maler, der Dichter, der Bildhauer wirken auf uns durch ein psychisches Medium,
ein Interpolationsglied, welches sie der organischen Natur entnehmen müssen: der
Architekt wirkt nicht auf dem Umwege über ein umgestaltetes Naturvorbild. Im
Gegenteile — wir möchten sagen, er wirkt mit totem Material der Natur ent-
gegen. Der Zauber des Bauwerkes liegt in seiner Naturwidrigkeit, in seinem
Unterschiede von der Höhle und dem naturgewachsenen Felsen, seine Beseelung
geht von Ausgangspunkten unserer Betrachtung aus, welche den Ausgangspunkten
bei der Betrachtung gegenständlich darstellender Künste diametral konträr gelegen
sind. Die aber gerade darum einer psychologischen Erfassung Anhaltspunkte bie-
ten, deren keine andere Kunst fähig ist.

Wenn wir im vorigen vom „Stilwillen" einer Zeit gesprochen haben, so wollen
wir uns jetzt nicht verheimlichen, daß der Gebrauch dieses Ausdruckes eine Kon-
zession an den allgemeinen Sprachgebrauch darstellt, aus welcher der Leser keine
allzu weitgehenden Schlüsse ziehen möge. Das Wort „Stilwillen" ist zwar allgemein
gebräuchlich, doch ist der ihm zugrundeliegende Begriff teils inhaltsarm, teils
geradezu irreführend. Es wäre ähnlich, als wollten wir von dem „Symptomwillen"
eines Kranken oder von dem „Ornamentwillen" eines Schmetterlings sprechen. Der
Ausdruck „Stilzwang" oder „Stiltrieb" einer Epoche käme dem Wesen der Sache
schon wesentlich näher. Im Begriffe des Wollens liegt für das vom empirischen
Willensphänomen ausgehende Denken ein zu großer Beisatz von Freiheit, wäh-
rend es doch keinem der verschiedenen uns bekannten „Stilwillen" jemals frei-
gestanden ist, etwa auch etwas anderes als seine sozusagen naturgegebenen Kon-
kretisierungsformen zu „wollen".

Jede Kulturperiode hat, als umfassendste Synthese ihres Denkens, Fühlens und
Handelns, ihrer nationalen, territorialen, sozialen Eigenschaften, ihrer Schicksale
und Eindrücke, ihrer Freuden, Wünsche und Leiden sich ihren einmaligen, histo-
risch unwiederholbaren „Stil" geschaffen. Die Entstehung dieses Stils als einer
ganz einzigartigen psychischen — emotionalen wie zerebralen — Sinnverwandt-
schaft zwischen allen individuellen Emanationen dieser Kultur ist ein Problem,
dessen Lösung dem durch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse neu gestärkten
Geiste der heutigen Kulturphilosophie zur Aufgabe gestellt ist. Ein Problem aber,
aus dessen dereinstiger restloser Lösung wir heute für unsere Zwecke immerhin
soviel schon antizipieren dürfen, daß diese sich auf dem Geleise einer allgemein-
sozialpsychischen Zwangsläufigkeit nach der Formel „Analogie psychischer Ur-
sachen führt zu Analogie psychophysischer Bedingtheiten" bewegen muß. Sicher ist
natürlich, daß ein Stilwillen in der rational interpretierten Form, wie er als Phan-
tom der Suche nach einem Zeitstile zu Beginn des Jahrhunderts so viele Ver-
heerungen in künstlerischen und besonders in halbkünstlerischen Kreisen angerich-
tet hat, niemals bestanden hat oder auch bloß bestehen konnte.
Was wir heute den Stilwillen nennen, das war zu seiner Zeit ein innerliches „Gar
nicht anders Können": die gefühlsmäßig evidente Selbstverständlichkeit, seine
 
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