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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0195
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BESPRECHUNGEN.

179

3. Naturalistischer Idealismus. Dies Kennwort besagt, daß Dehmel beides als
vollberechtigt erkennt und anerkennt: Natur und Geist, Tierisches und Göttliches,
oder wie man die Antithese sonst bezeichnen will. Das Kreatürliche wird nicht
verdrängt, nicht einmal in seinen krassesten Formen. Doch, daß die Welt nicht
darin stecken bleibe, dafür sorgt eben die große Sehnsucht, die zu immer neuen
Uberwindungen antreibt; diese Sehnsucht, die zwar ohne erreichbares Ziel, vor allem
ohne jenseitiges Ziel ist, nicht aber ohne sichere Richtung aufs Ideelle, Göttliche hin.
Naturalistisch fundiert, idealistisch orientiert (um ein Wort Flakes abzuwandeln).

Gern hätte ich außer Slochowers gewiß überzeugenden Belegen durch Wieder-
gabe gedanklicher Einzelstellen auch einmal die Analyse eines ganzen Kunstwerks
gefunden, etwa des Gedichtes „Manche Nacht" oder des „Märchens vom Maul-
wurf". Da erst spüren wir den eigentlichen Lebensprozeß (natürlich meine ich nicht
die Entstehung des Gedichtes) wirklich in uns überströmen, die eigentümlich Dehmei-
sche Spannung, Bewegung und Verzückung (ins Dunkel schreiten oder gar sich
einwühlen, um schließlich von einem Urlicht überwältigt zu werden). Solche Lebens-
und Erlebenssymbole „beweisen" m. E. unmittelbarer als alle Philosophie, wenn sie
auch zur gedanklichen Auswertung erst einer Deutung bedürfen.

Mit Kapitel 3 ist die Verschmelzung von 1 und 2 geleistet. Rückschauend bleibt
zu erwägen, ob die beiden ersten Kapitel nicht logischerweise zu vertauschen wären:
Primär scheint mir das Gefühl für den Zwiespalt im Grunde der Welt; aus ihm
entspringt doch erst der Wille zur Oberwindung, und das eben ist das Urprinzip.
Erst die elektrische Spannung, dann der elektrische Strom.

Der zweite Teil, das Weltbild, bringt gewissermaßen die Anwendung des ersten
auf besondere Lebensgebiete. Sinn- und zweckgemäß wäre mit dem Kapitel Mensch
und Gott begonnen worden, das am engsten mit der Metaphysik zusammenhängt
(vgl. S. 230, Anm. 29). Die Auseinanderreißung bedingt allerhand nutzlose Wieder-
holungen.

Sehr interessant sind die Ausführungen über Weib und Welt, die den natura-
listischen Idealismus auf dem Gebiete des Geschlechtlichen zeigen. Das „Tierisch-
Trübe" wird bewußt, ja mit Lust in Rechnung gestellt, um denn doch vom „Göttlich-
Klaren" überwunden zu werden: „Aus dumpfer Sucht zu lichter Glut". Dehmels
Stimme kann nicht überhört werden in der heute spielenden Diskussion über diese
Probleme.

Nicht minder aktuell sind die beiden folgenden Kapitel: Arbeiter und Gesell-
schaft, Volk und Menschheit. In beiden Fragen jedoch hat Dehmel, nach Slochower,
versagt, weil er seinem naturalistischen Idealismus untreu geworden ist. Im ersten
Falle verliert er den Boden unter den Füßen, wird zum Romantiker, indem er die
äußeren wirtschaftlichen Verhältnisse vernachlässigt und dem Arbeiter nur eine
Predigt zur inneren Selbstzucht zu bieten hat. Im andern Fall ist er, im Gegenteil,
im bloßen Naturalismus stecken geblieben, er hat das Ideal der Menschheit nicht
klar und sicher genug erfaßt. Zuzugeben ist, daß Slochower hier nicht fremde
Maßstäbe von außen an den Dichter heranträgt, sondern ihn mit seinen eignen
Grundsätzen und Worten schlägt.

Das Kapitel Natur und Kunst setzt Dehmel in Beziehung zu zeitgenössischen
Dichtern; die Vertrautheit mit neuerer Literatur erlaubt dem Verfasser mancherlei
Hindeutungen. Leider hat er, was bei dem außerordentlichen Tagesreiz seines
Buches doppelt bedauerlich ist, verhältnismäßig wenig auf den Expressionismus
hingewiesen, und doch läßt sich gerade das als eines der Hauptergebnisse für die
Literaturgeschichte herauskristallisieren: Dehmel ist nicht nur Vorläufer und Über-
leitung zum Expressionismus, er selber ist weithinein vorgestoßen, ja befindet sich
 
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