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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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Glanz, Robert: Der poetische Wertmaßstab Gustave Flauberts, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0211
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DER POETISCHE WERTMASSTAB GUSTAVE FLAUBERTS. 195

Julietta, eine Nebenfigur dieser Erzählung, überschüttet den Geliebten
mit allem, was in ihr ist an „Leidenschaft, Liebe, verzehrendem Feuer,
,poesie"' (App. I, 196)2).

Wie vertraut Flaubert in seiner Jugendzeit dieser Wortgebrauch ge-
wesen sein muß, zeigt der seltsame Umstand, daß er noch im zweiten Sta-
dium seines künstlerischen Werdeganges, ja selbst noch im Sommer sei-
ner Reife Gefühlswirkungen zuweilen mit dem Worte „poesie" benennt —
zu einer Zeit, da er doch, wie sich später zeigen wird, die Bedeutung einer
Dichtung am Grad ihrer gegenständlichen Gefühlswirkung zu bemessen
aufs gründlichste verlernt und den poetischen Wertmaßstab seiner Jugend
längst zerbrochen hatte. Im selben Sinn des Wortes wie der Flaubert der
ersten Phase spricht das Tagebuch der italienischen Reise des Jahres
1845 von der „poesie" des „ehebrecherischen Weibes" (O. XIII, 60) und
der „poesie" des Galeerensklaven (O. XIII, 14). „Par les champs et par
les greves" berichtet über die mangelhafte „poesie" einer eintönigen Land-
schaft (O. VII, 36), die „heiße ,poesie"' eines Kirchenstils (O. VII, 162),
diejenige eines Gemäldes (O. VII, 158), eines Steinreliefs (O. VII, 233)
und die „poesie" der Dirne (O. VII, 249). In Briefen aus den Jahren
1852 und 1853 ist die Rede von den „poesies ameres" der Prostitution
(Co. III, 38), von „poetischen" Unterhaltungsgegenständen (Meer, Ge-
birge, Musik, Literatur) (Co. III, 43), von „poetischen" Frauen (Co. III,
135), und der „supreme poesie du neant-vivant, de l'habit qui
s'use, ou du sentiment qui fuit" (Co. III, 215). Andere erzählen von
„poetisch" gerollten Zigaretten (O. X, 139), klagen über die dürftige
„poesie" des Verkehrs mit Philistern (O. XII, 160).

Es wurde bereits angedeutet, daß der reife Flaubert, obgleich er ge-
legentlich das Wort „poesie" zur Bezeichnung von Gefühlswirkungen ver-
wendet hat, dennoch nicht den Wert einer Dichtung an solchen Wirkun-
gen bemaß, daß er vielmehr den Irrtum seiner Jugend, dem diese Ver-
wendung einst entsprungen war, den Irrtum, Poesie sei nichts als eine Er-

2) Adel ist in Manoellos Worten, des Helden von „La Main de Fer", Stolz in
seinen Gebärden, in seinem Blick „poesie" (App. II, 272). In dem Wort „adultere"
findet der Dichter des „Novembre" eine „poesie supreme, melee de malediction et de
volupte" (App. II, 193). Der Schreiber des Korsischen Tagebuches möchte im
Orient seinen Durst stillen nach „ungeheuren, namenlosen Dingen, Licht, ,poesie"'
(O. VII, 478). Marguerite, die Hauptgestalt von „Un Parfüm ä sentir", wirft sich
dem Gatten in die Arme „pleine de poesie et d'amour" (App. I, 103). Denn nur das
eine hat sie ja vom Himmel erfleht: einen Lebensgenossen zu besitzen, der sie liebt,
der ihre Gefühle begreift, der die ganze „poesie" empfindet, die in ihrem Herzen
ist (App. I, 98). Den Verfasser der „Memoires dun Fou" verlangt es nach der
„poesie d'une existence pleine d'amour" (App. I, 495). An Lucindes Seite hofft
Jules, der Held der ersten „Kducation sentimentale", sein Leben zu verbringen;
reich möchte er werden und berühmt, nach Spanien, Italien, Griechenland will er
reisen mit der Geliebten, den Geruch von Orangenblüten atmen, Sterne glänzen
sehen auf blauem Meer — und dieses sein Lebensideal faßt er in die Worte zusam-
men: „J'aurai une vie d'amour et de poesie" (App. III, 105).
 
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