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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0278
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262

BESPRECHUNGEN.

christlicher Kunst in Basel 1924 ins Leben gerufenen schweizerischen „Societas
Sancti Lucae" und ihr welscher Vizepräsident. Seine Kunst wird uns ebenda von
Linus Birchler geschildert, ob es sich um Bilder, Mosaiken, Kirchenfenster, Bühnen-
und Kostümentwürfe oder Innendekorationen handelt, als „ganz erstaunlich reich
an Einfällen und Gestaltungsformen, von einer üppig barocken Pracht, Lebendig-
keit und Eindringlichkeit, die heute ihresgleichen sucht".

Dieser Mann hat nun seinem Herzen Luft gemacht gegenüber dem religiösen
Kunstbetrieb eines Katholizismus, der nur eine verweichlichte, versüßlichte, gespen-
sterhafte, wirklichkeitsfremde Scheinkunst und, was schlimmer ist, nur die Schein-
künstler in seinen Kirchen und Häusern verträgt, und gegenüber einer religiösen
Kunst, die nichts anderes widerspiegelt als, wie Cingria sich einmal ausdrückt,
„die Angst vor dem Leben, die ein Kennzeichen der Katholiken des 19. und 20.
Jahrhunderts ist" (39). Tief durchdrungen von der unbedingten Zusammengehörig-
keit der Kunst mit der Religion bzw. der (katholischen) Kirche und von dem
schweren Schaden, welchen die Trennung des Kirchlichen und Weltlichen, die Schei-
dung der christlichen von der lebendigen und zeitgenössischen Kunst für die
Kirche und für die kirchliche Kunst bedeutet, ist ihm alle diese so verabscheute
und von der kirchlichen Architektur bis zum kirchlichen Kleingegenstand in ihrer
Hohlheit bloßgestellte religiöse Gegenwartskunst letztlich nur die Auswirkung des
Teufels, welcher „der Urheber von allem Häßlichen, Gemeinen und auch Lang-
weiligen ist" (9).

Im einzelnen unterscheidet und erläutert er als die Gründe des Niederganges
der kirchlichen Kunst dreierlei Art, nämlich 1. moralische (man will und man
kultiviert in der kirchlichen Kunst die Langeweile, die Gedankenlosigkeit, die Ver-
logenheit, die Leblosigkeit); 2. historische (Protestantismus, Jansenismus, franzö-
sische Revolution und Konkordat, Klösteraufhebungen, Gallikanismus, Trennung
von Kirchlichem und Weltlichem); 3. rein künstlerische (Akademismus, Romantik,
Verindustrialisierung: durch diese erhielt die christliche Kunst des 19. Jahrhunderts
die Todeswunde, S. 72).

Künstler sind nicht die einzigen, die einseitig sind; aber sie sind es besonders
gern. Bei Cingria ist es nicht anders. Auch ihm liegt das Übertreiben und Ver-
allgemeinern im Blute. Wie einseitig ist es, über die ganze nachmittelalterliche
Kunst den Stab zu brechen! Wie einseitig, in dieser ganzen Zeit eigentlich nur
den einzigen Eugene Delacroix als wahren Künstler gelten zu lassen! Wie springt
Cingria mit Raffael um (S. 61 ff.)! Und dergleichen mehr. Und doch, wenn man
sieht, wie der Verf. mit ebensolcher Offenheit von der Verdorbenheit des päpst-
lichen Hofes am Anfang des 16. Jahrhunderts spricht, wie er spricht von der
Reformation und dem Jansenismus usw. als den großen Widerparten religiöser
Kunst, oder wenn er die deutsche Philosophie eine schwerste Gefährdung des
gesunden Denkens Europas nennt (42) und an anderer Stelle wieder von dem from-
men, vergrübelten und tiefen Deutschland redet (22), oder wenn er den Satz prägt:
„Die christliche Kunst kann nicht wiedergeboren werden, solange der Protestantis-
mus existiert" (41 f.), und gleichzeitig sein Büchlein dem Andenken seines protestan-
tischen (!) Genfer Malerkollegen Maurice Baud widmet (zur Widmung s. S. 39),
so erkennt man, daß seine Einseitigkeit nicht entfernt etwas zu tun hat mit Eng-
herzigkeit, sondern daß alle seine Äußerungen herausströmen aus einer großen
inneren Wahrhaftigkeit. So liest man das temperamentvolle Büchlein des kenntnis-
reichen Verfassers trotz aller Vorbehalte vom Anfang bis zum Ende mit gleich-
mäßig gespanntem Interesse und mit der Überzeugung, daß, so einseitig und so
anfechtbar auch seine Begründungen weithin sind, sein Kampf berechtigt und sein
 
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