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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0281
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BESPRECHUNGEN.

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Deutschland dann, wo die Wissenschaft langweilig sein soll, für unwissenschaftlich
erklärt. Worringer gehört — mit einer gewissen ihm eigenen Vorsicht — zu Gei-
stern wie Spengler oder Strzygowski, die mit Leidenschaft ein Ganzes sehen wollen,
dabei sehr summarisch verfahren und es nicht scheuen, beständig hart an den Gren-
zen des Irrtums einherzugehen. Auch in diesem neuen Buch gibt sich Worringer
seiner Lust am Synthetischen hin. Über ein anderes Buch, das vor einem Jahr er-
schienen ist und das die Kunst Ägyptens mit fast sensationeller Zuspitzung der
Begriffe behandelte, mußte ziemlich absprechend geurteilt werden; dieses neue Buch
aber ist viel besser, es ist viel richtiger, es beleuchtet eines der wichtigsten Geistes-
probleme der Zeit so, daß kein Gewissenhafter ihm ausweichen kann. Die Schwäche
bleibt bei Worringer immer dieselbe. Sie besteht darin, daß er nicht genug Auge
ist, daß er von Ideen ausgeht und hinterher die Formenbeispiele so wählt, wie
er sie braucht, um seine Thesen zu stützen. Dem gegenüber steht aber die Kraft,
daß Worringer von Natur ein universal denkender Mensch ist, daß er einen natür-
lichen Spürsinn für geschichtliche Vorgänge hat, daß ihm alles historische Geschehen
irgendwie verknüpft erscheint, und daß er vor diesen Verknüpfungen Ehrfurcht
empfindet. Worringer hat geschichtliche Phantasie und versteht es, sie geistvoll
auszudrücken.

Es handelt sich für Worringer darum, der einseitigen europäischen Einstellung
eines ganzen Jahrtausends ein Gegengewicht schaffen zu helfen. Ein Unternehmen
so groß, daß der Wille allein schon etwas bedeuten würde! Er erhebt sich gegen
den Humanismus, gegen das, was man die europäische Lateinkultur nennen könnte,
die, nach Worringer, dem Griechentum eigentlich feindlich ist, obwohl sie sich
davon herleitet. Im Römischen sieht Worringer einen grundsätzlich andern Geist
als im Griechentum, im besonderen als im Hellenismus. Das Griechische erblickt
er hingegen, in vielerlei Verwandlungen, im Byzantinischen, im Frühchristlichen,
im Islamischen, im Buddhistischen, in der Gotik und sogar in der russischen Ikonen-
malerei. Mit Recht schätzt er die unmittelbare Oberlieferung des Griechischen, wie
sie im Römischen und in der italienischen Renaissance hervortritt, geringer ein als
die mittelbare Oberlieferung, wie sie sich in den lebendigen Stilen der Folgezeit, in
Ost und West, Süd und Nord, ausgewirkt hat. Wie große Künstler nicht sowohl
durch direkte als vielmehr durch indirekte Traditionen wahrhaft lebendig weiter-
wirken, so tun es auch geschichtliche Stile.

Im einzelnen bieten Worringers Ausführungen vielleicht nicht viel Neues. Die Zu-
sammenfassung aber ist neu und bedeutend. Es entsteht ein Beitrag zu einer Uni-
versalgeschichte der Kunst, die zu schaffen die Aufgabe des nächsten Jahrhunderts
sein wird. Es gibt viele Einwände im einzelnen gegen das Buch; dieses Absolute aber
wird durch keinen Einwand in Frage gestellt. In der Intuition, womit das Ganze
gesehen ist, steckt das Richtige. Wer ein Buch wie dieses zur Hand nimmt, muß
wissen, was er fordern und was er nicht fordern darf. Er muß wissen, daß Geschicht-
schreibung letzten Endes immer Dichtung ist. Worringer versteht es, im Lesen ein
Gefühl für den „sinnlosen Sinn" der Geschichte zu erwecken, er rührt an das „offen-
bare Geheimnis", an Gesetze, die nie klar gedeutet werden können, die nichtsdesto-
weniger aber alle Menschen fortgesetzt beschäftigen. Dadurch kommt freilich in
alle Ausführungen etwas Schwankendes. Das ist aber nicht zu vermeiden. Es ist
leichter, diesem Buch im einzelnen Fehler oder Absichtlichkeiten nachzuweisen und
es gekünstelt zu nennen, als seine Grundtendenz gerecht einzuschätzen. Denn diese
Grundtendenz ist revolutionär.

Berlin. Karl Scheffler.
 
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