GOETHES „PROPYLÄEN".
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stierende Dinge, die erst durch die künstlerische Formung eine Art von
Idealität erhalten, und es gibt außerdem an sich schon vollkommen gebil-
dete Gegenstände, deren Würde und Symbolhaftigkeit der Künstler nicht
erst schafft, sondern die er auszudrücken kaum fähig ist. Die bildende
Kunst soll aus der Reihe der organischen Gestalten die vollkommensten
auswählen, die Natur auf der Höhe ihrer Erscheinung ergreifen. Erst
wenn sie sie einer höchsten Vollendung in sinnlicher und geistiger Schön-
heit zuführt, erfüllt sie die Steigerungstendenzen der Natur und schließt
den Kreis der Metamorphosen ab. Hält sie sich aber an die unvollkom-
menen Formen, an die leblosen Dinge, die Pflanzen- und Tierwelt, an den
Menschen in seiner nur-individuellen, einmaligen Erscheinung, an das
Zufallsbild des Gegenwärtig-Sichtbaren, so erschöpft sie sich mit unend-
licher Kraft, um das Halbgeformte, das Leblose, im Bildungsprozeß noch
Befindliche zu formen, zu beleben, gestaltend zu vollenden.
Und was ist die schon vollkommen gebildete Natur, die höchste der
organischen Formen? Der schöne Mensch und der nur menschliche
Mensch, ohne die Zufälligkeit des Gebarens und Aussehens, ohne eine be-
schränkte und niedrige Individualität, der Mensch der homerischen Welt.
Das ist der Sinn der mythologischen Themen der Preisausschreiben, jener
damals schon als antiquarisch empfundenen Gegenstände, die man Goethe
so bitter verdacht hat in einer Zeit, die der Landschaft, dem Kirchenbild
und den Darstellungen aus der vaterländischen Geschichte zustrebte.
Daß der Gedanke, Homer wieder als Stoffquelle, ja als „Vorbild" für
die bildende Kunst anzusehen, bis in die Frührenaissance zurückgeht,
möge hier nur erwähnt werden1). Goethe sah aber in Homer nicht nur
das Muster oder die Stoffsammlung wie der Graf Caylus, auch nicht die
hohe Bildlichkeit der dichterischen Wendungen allein, die man nur in die
ihr angemessene Sprache zu übersetzen habe, wie Winckelmann meinte, —
er hatte sich vielmehr Lessings Unterscheidung der spezifischen Mittel
für die einzelnen Künste vollkommen angeeignet. (Bei Winckelmann klingt
immer das leise Bedauern durch, daß Homer sich eigentlich im Ausdruck
für seine bildliche Phantasie geirrt habe dadurch, daß er die Sprache
wählte.) Goethe wollte also nicht, daß man nach Homer, sondern w i e
Homer mythologisch-epische Gegenstände behandle. Es gab für ihn aber
anderseits keine reinere Vermittlung der im höchsten Sinne menschlichen
Natur als die des griechischen Dichters. Die Unmittelbarkeit des Mythos,
aus dem die griechischen Künstler schöpften, ist uns versagt, wir bedür-
fen deshalb des Dichters, der uns „durch seine magische Gewalt in den
Zustand versetzt, der zugleich natürlich und künstlich, zugleich sinnlich
und geistig ist", heißt es im Vorwort zur Preisaufgabe von 1803.
*) Vgl. Karl Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheo'rie, Leipz. 1924.
Bd. I, S. 184 f.
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stierende Dinge, die erst durch die künstlerische Formung eine Art von
Idealität erhalten, und es gibt außerdem an sich schon vollkommen gebil-
dete Gegenstände, deren Würde und Symbolhaftigkeit der Künstler nicht
erst schafft, sondern die er auszudrücken kaum fähig ist. Die bildende
Kunst soll aus der Reihe der organischen Gestalten die vollkommensten
auswählen, die Natur auf der Höhe ihrer Erscheinung ergreifen. Erst
wenn sie sie einer höchsten Vollendung in sinnlicher und geistiger Schön-
heit zuführt, erfüllt sie die Steigerungstendenzen der Natur und schließt
den Kreis der Metamorphosen ab. Hält sie sich aber an die unvollkom-
menen Formen, an die leblosen Dinge, die Pflanzen- und Tierwelt, an den
Menschen in seiner nur-individuellen, einmaligen Erscheinung, an das
Zufallsbild des Gegenwärtig-Sichtbaren, so erschöpft sie sich mit unend-
licher Kraft, um das Halbgeformte, das Leblose, im Bildungsprozeß noch
Befindliche zu formen, zu beleben, gestaltend zu vollenden.
Und was ist die schon vollkommen gebildete Natur, die höchste der
organischen Formen? Der schöne Mensch und der nur menschliche
Mensch, ohne die Zufälligkeit des Gebarens und Aussehens, ohne eine be-
schränkte und niedrige Individualität, der Mensch der homerischen Welt.
Das ist der Sinn der mythologischen Themen der Preisausschreiben, jener
damals schon als antiquarisch empfundenen Gegenstände, die man Goethe
so bitter verdacht hat in einer Zeit, die der Landschaft, dem Kirchenbild
und den Darstellungen aus der vaterländischen Geschichte zustrebte.
Daß der Gedanke, Homer wieder als Stoffquelle, ja als „Vorbild" für
die bildende Kunst anzusehen, bis in die Frührenaissance zurückgeht,
möge hier nur erwähnt werden1). Goethe sah aber in Homer nicht nur
das Muster oder die Stoffsammlung wie der Graf Caylus, auch nicht die
hohe Bildlichkeit der dichterischen Wendungen allein, die man nur in die
ihr angemessene Sprache zu übersetzen habe, wie Winckelmann meinte, —
er hatte sich vielmehr Lessings Unterscheidung der spezifischen Mittel
für die einzelnen Künste vollkommen angeeignet. (Bei Winckelmann klingt
immer das leise Bedauern durch, daß Homer sich eigentlich im Ausdruck
für seine bildliche Phantasie geirrt habe dadurch, daß er die Sprache
wählte.) Goethe wollte also nicht, daß man nach Homer, sondern w i e
Homer mythologisch-epische Gegenstände behandle. Es gab für ihn aber
anderseits keine reinere Vermittlung der im höchsten Sinne menschlichen
Natur als die des griechischen Dichters. Die Unmittelbarkeit des Mythos,
aus dem die griechischen Künstler schöpften, ist uns versagt, wir bedür-
fen deshalb des Dichters, der uns „durch seine magische Gewalt in den
Zustand versetzt, der zugleich natürlich und künstlich, zugleich sinnlich
und geistig ist", heißt es im Vorwort zur Preisaufgabe von 1803.
*) Vgl. Karl Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheo'rie, Leipz. 1924.
Bd. I, S. 184 f.