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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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Kampmann, Wanda: Goethes "Propyläen" in ihrer theoretischen und didaktischen Grundlage
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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0059
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GOETHES „PROPYLÄEN".

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Gruppe; es ist der plötzliche Übergang von einem Zustand in den andern,
der alles veranlassende, alles bewegende Moment, der das Vorher und
Nachher fast in eine Gegenwart zusammendrängt. Einen Gegenstand
höchsten Ranges sah Goethe in dem Kampf des Geformten mit dem Form-
los-Chaotischen oder dem Wesen niederer Gattung, und er gibt das
Thema in dreifacher Variation: Achill im Kampf mit den Flußgöttern,
Odysseus, der den Polyphem überlistet, und in heroischer und allgemein
menschlicher Form, die auch jede biblische Vorstellung abstreift: der
Kampf des Menschengeschlechts mit dem Wasser. Wieder liegt der Meta-
morphosengedanke diesen Aufgaben zugrunde: im Stufenreich der Schöp-
fung behauptet sich die vollkommenste Gestalt gegen chaotische, halb- und
mißgeformte Mächte, im Vernichtungskampf tritt sie am reinsten in Er-
scheinung, ob nun Sieg oder Untergang das Ende ist. Goethe sah in Raf-
faels Borgobrand diese Idee gestaltet, auch im Laokoon, wo er die Um-
zingelung der Schlangen mit der Wirkung ausgeteilter formloser Natur-
kräfte vergleicht. Die eingeschickten Zeichnungen, auf die einzugehen un-
ser Thema nicht verlangt, befriedigen Goethe keineswegs, wenn er auch,
die pädagogische Haltung wahrend, seiner Enttäuschung nicht vollen
Ausdruck gibt.

Das Kriterium für den Wert der Lösungen war seltsamerweise die
„Erfindung", das bedeutet aber die Auffindung der fruchtbaren Motive,
also ganz im Sinn der antiken Kunsttheorie eine Findung und Entdeckung
allgemeingültiger Prinzipien, nicht aber eine phantastische und willkür-
liche Erfindung individueller Formen1). In der Wertschätzung des „rich-
tigen Denkens" liegt nicht ein Übersehen der formalen und technischen
Werte, sondern eine beabsichtigte Kontrolle über die sinnliche Vorstellung
des Künstlers, das heißt die beständig wiederholte Frage: was hat er
sichtbar machen können, bis zu welchem Grade sind die Möglichkeiten
des Themas in der sinnlichen Darstellung erschöpft? Goethe glaubte, daß
immer nur eine einzige, höchste und vollkommenste Lösung einer Auf-
gabe möglich sei, und er sah die Erfüllung in den großen Werken der
Antike und der Hochrenaissance.

Was über formale Bedingungen gesagt wird, den reinen Umriß, wenige
große Gestalten, Einfachheit und Ökonomie der Darstellung, läßt auf die
Stilstufe attischer Reliefs oder der aldobrandinischen Hochzeit oder Raffa-
elscher Fresken schließen; für die klassizistische Sehform rücken diese weit

*) Vgl. E. Panofsky, Idea, Studien der Bibliothek Warburg, Leipzig 1924,
Anm. 6, über den platonischen Begriff der e-öp^atc, der eine Umkehrung unseres
Wortes Erfindung ist, für die Antike aber diese ästhetische Kategorie ersetzte.
Vgl. ferner K. Borinski, a. a. O., I, S. 31 f.
 
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