Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0205
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
191

vom Hörensagen kennen, und für die anti-„bürgerliche", anti-„kapitalistische" Dich-
tung nichts anderes ist als die neueste Sensation ihrer ganz aufs Verneinende, Zer-
setzende beschränkten wurzellosen Naturen. Aber auch sonst, glaube ich, werden
sich Kl.s Zukunftshoffnungen noch lange nicht, und so, wie er sie sieht, wohl über-
haupt nicht erfüllen. Daß die oft mit Recht geschmähten „Bindungen", seit
unsere deutsche Gesellschaft nicht mehr „bürgerlich" geleitet wird, sich etwa gelöst
oder auch nur gelockert hätten, wird Kl. unmöglich behaupten wollen. Und sollte
er dagegen vielleicht einwenden, daß unsere Gesellschaft, wenn auch nicht mehr
„bürgerlich"' geleitet, so doch immer noch „kapitalistisch" geartet sei: glaubt Kl.
wirklich, daß eine etwaige „künftige klassenlose . . . Kultur" dem „modernen
Arbeitsmenschen" „freie Selbstbestimmung" brächte und überhaupt ein günstiger
Fruchtboden sei für irgendwelche Leistungen des Geistes oder Gemüts, um derent-
willen schließlich das Menschenleben wert ist, gelebt zu werden? — Doch hier, wo
ein Wissen unmöglich, ein Hoffen ehrwürdig, aber auch der Zweifel unwiderlegbar
ist, wollen wir nicht weiter rechten. Wenn wir auch bedauern, daß Kl. sein der
zeitlos wirkenden deutschen Dichtung so begeistert dienendes Werk einer so zeit-
bedingten, außerkünstlerischen Grundlehre wie dem historischen Materialismus ver-
pflichtet, was noch im Schlußsatz: „die Dichtung der Zukunft steht ... im Zeichen
schicksalhaft entscheidender Klassenkämpfe" disharmonisch nachklingt, so verken-
nen wir doch nicht, daß dieses Werk sowohl in seiner (einschränkenden) Absicht wie
in seiner absichtslosen tatsächlichen Leistung eine deutsche Dichtungsgeschichte
darstellt, die vermöge ihrer gediegen-kenntnisreichen, wissenschaftlich-gewissenhaf-
ten, künstlerisch-feinsinnigen Abfassungsart sich auch bei den Gegnern jener ihrer
„Tendenz" durchsetzen wird.

Greifswald. Kurt Gassen.

Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte. Mit Einschluß des
altenglischen und altnordischen Stabreimverses. (Grundriß der germanischen
Philologie, begründet von Hermann Paul, VIII, 1—3). Berlin und Leipzig,
Walter de Gruyter. Erster Band. Teil I und II: Einführendes; Grundbegriffe
der Verslehre. Der altgermanische Vers. 1925. Zweiter Band. Teil III: Der
altdeutsche Vers. 1927. Dritter Band. Teil IV und V: Der frühneudeutsche
Vers. Der neudeutsche Vers. 1929.

Mit der „Deutschen Versgeschichte" Andreas Heuslers empfangen Ästhetik
und allgemeine Kunstwissenschaft ein reiches Geschenk. Einer ihrer sprödesten
Gegenstände, der in den Händen kunstferner Gelehrsamkeit vollends zu erstarren
drohte, wird hier durch eine kunstnahe wissenschaftliche Betrachtung der Erkennt-
nis neu erschlossen und in formschöner Darstellung künstlerischem Genuß zu-
bereitet.

Heusler behandelt die Versgeschichte als Kunstgeschichte. Sie ruht auf einer
Verslehre, die zur Literaturgeschichte, nicht zur Grammatik gehört (I § 9). Heus-
lers Verslehre ist Kunstlehre; sie geht aus vom rhythmischen Erlebnis
als der „Größe, worauf dem Versforscher alles ankommt" (I § 8). Das rhyth-
mische Erlebnis wird ausgelöst durch die hörbare Form des dichterischen Kunst-
werks. Es ist also im wesentlichen ein Gehör erlebnis, für das die Wortreihe
des Verses Rohstoff und Anreiz bedeutet; das Bewegungserlebnis tritt dahinter
zurück (I §24. §30; III § 1097). Der Metriker braucht vor allem einen entwickel-
ten Rhythmensinn (I §14); denn jeder Vers verwirklicht einen Kunst-
rhythmus, und die erste Frage, die wir an den Versbau zu richten haben, gilt
seiner rhythmischen Form. Unter Rhythmus oder Zeitfall versteht Heusler
 
Annotationen