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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0214
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BESPRECHUNGEN.

Der Verfasser vorliegender, Rudolf Unger gewidmeter Kleistschrift warnt in
diesem Sinne vor dem Chaos moderner Kleistbilder. Er selbst will kein irgendwie
abschließendes neues Kleistbild entwerfen — seiner Meinung nach sind die not-
wendigen tatsachenmäßigen Voraussetzungen dazu noch gar nicht vorhanden —,
seine Darstellung will nur „auf ein Element des Kleistschen Geistes aufmerksam
machen, das für das Verständnis seines Lebens und seiner Dichtung von zentraler
Bedeutung ist, und sie bezweckt nichts, als die Tatsächlichkeit und die Wirkung
dieses Elementes im Leben und Schaffen Kleists nachzuweisen". In Wirklichkeit
bietet F r i c k e s Buch aber mehr, als diese bescheidene Ankündigung verheißt.
Obwohl er nicht einmal alle Werke Kleists beleuchtet, weil nicht für alle seine
Grundthese gleich grundlegende Bedeutung hat, werfen seine fein durchdachten,
sorgfältig gearbeiteten, von genauester Einzelkenntnis zeugenden Darlegungen doch
helles und klares Licht auf den ganzen Kleist. So entwirft F. fast wider Willen
auch ein neues, umfassendes Kleistbild, und zwar ein solches, das sich von den oben
gekennzeichneten modischen anderen wohltuend, dem wahren Kleistkenner zu tiefer
Befriedigung, abhebt. Aus dem Dunstkreis jener andern Kleistdeutungen ragt dieses
lichte, einfache, gesunde und tiefe Wesensbild Kleists leuchtend heraus.

Wenn F. an Leben und Werk Kleists neuartige Beurteilungen vornimmt, so ist
hier nicht eitle Originalitätssucht der Grund, vielmehr zeugen seine Ausführungen
Schritt für Schritt von ehrlichem, selbstlosem Forscherwillen. Gleich der bekannte
Lebensplan Kleists erfährt hier eine höchst bedeutungsvolle Umwertung. Aus
Kleists Wesen heraus dürfe er gar nicht so einfach aufklärerisch-rationalistisch
verstanden werden; er verfolge vielmehr ein durchaus idealistisches, im jenseitigen
weitab von unmittelbarem Lebensnutzen gelegenes Ziel, freilich mit aufklärerisch-
rationalistischen Mitteln, nämlich das, sich zur Erfüllung des letzten Sinns seines
eigenen Daseins der Gesamtheit der Wissenschaften zu bemächtigen. Und zwar
wird solch scheinbar in sich widerspruchsvolle Vereinigung bei Kleist möglich
durch ein ganz ureigenes Moment in seinem Wesen, durch sein lebendig erlebtes
konkretes Ich-Gefühl, wie es so weder durch die Aufklärung noch auch durch den
Idealismus, dem ja das persönliche Ich im Gegenteil gleichgültig war, befrie-
digt wurde. Da der Gedanke eines Lebensplans ,,in dieser konkret-individuellen und
realen Form für den Idealismus unvollziehbar" ist, „wie er gleichzeitig wegen seines
über jedem empirischen Zweck liegenden, autonomen, zugleich individuellen und
absoluten Charakters der Weltanschauung der Aufklärung unbegreiflich war", so
mußte sich diese Sachlage in der Bildung dieses Lebensplans folgendermaßen aus-
prägen: „erstens: es muß ein ganz individuell-personhaftes Moment in das all-
gemeine Ziel eindringen, durch Aneignung der Wahrheit aus der Welt des Zufalls
in die der Ewigkeit und Notwendigkeit zu gelangen; zweitens: das Erlebnis der
Urwirklichkeit des Ich muß alles Denken notwendig aus der Sphäre abstrakter
Idealität in die konkreter Realität überführen, wobei an der religiösen Unbedingtheit
der Zielsetzung nichts geändert wird". So stellt Kleist die Frage nach dem Sinn
seines Daseins, nach seiner Bestimmung, seinem Glück — nicht aufkläre-
risch nach seinem praktischen Lebensnutzen, nicht idealistisch nach dem Sinn, der
Bestimmung des Menschen — in ganz besonderer Tiefe und bestimmt von diesem
Boden aus in ganz eigenartiger Tiefe und Dringlichkeit auch die Beziehung des
Ichs zum Du in der Forderung des unbedingten Vertrauens. Schon für den
jungen Kleist wurde „das Vertrauen zur höchsten Aufgabe, zu dem, auch die Liebe
in sich schließenden, Inbegriff und zur Lösung des Problems der Gemeinschaft".

In diesem Kleist ureigenen Erlebnis der „Urrealität des Ich" sieht F. die
Einheit seines Wesens, die aus der scheinbar aufklärerischen Periode seiner
Jugend über die Kantkrise fortdauerte. Das vielerläuterte Kanterlebnis Kleists
 
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