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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0302
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288

BESPRECHUNGEN.

verborgen geblieben, weil das lineare Körperbild, das in der japanischen Kunst und
in der griechischen Vasenmalerei voll entwickelt ist, der abendländischen Kunst
seit dem Sieg der Perspektive verloren gegangen ist. Wie das Begriffsbild gibt das
lineare Körperbild fast nur die Umrißlinien der Körper. Es versetzt sie so wenig
in den Raum als das Begriffsbild. Aber die Umrißlinien stellen nicht mehr bloß
die formbildenden Grenzen des Körpers und seiner Teile dar, sondern sie deuten
die körperlichen Formzusammenhänge und sind geladen mit Körpergefühl. Der
Künstler ist ergriffen von der plastischen Form und drückt diese Ergriffenheit in
der warmen Lebendigkeit seiner Umrißlinien aus. Pfleiderer macht das Wesen die-
ser Darstellungsart an Zeichnungen des Japaners Kitoa und an zahlreichen Kin-
derzeichnungen deutlich.

Indes auch diese Stufe, zu der nicht alle Kinder gelangen, genügt bei fort-
schreitender Entwicklung den Kindern nicht mehr. Sie drängen zum Raumbild.
Aber während man fast allgemein diese Entwicklung begrüßt als den eigentlichen
Aufstieg des Kindes vom kunstlosen Zeichnen zum künstlerischen, legt Pfleiderer
dar, daß das Künstlerische der Kinderzeichnung vor dem Raumbild liegt. Mit dem
Übergang zu diesem hört bei den nicht spezifisch künstlerisch begabten Kindern
das Schöpferische auf, das auch dem Kinde ohne Kunstveranlagung eigen ist. Es
wird jetzt in seiner Kunstbetätigung zum unoriginalen unschöpferischen Nachahmer
der Kunstwerke der Erwachsenen. Seine Zeichnungen werden kitschig. Nur solange
das Kind auf den beiden ersten Stufen, auf der des Begriffsbildes und des linearen
Körperbildes steht, vermag das Kind wahrhaft künstlerisch zu schaffen und ent-
zückende Werkchen hervorzubringen.

Aus dieser Ansicht ergibt sich für Pfleiderer die Aufgabe, die er sich eigent-
lich stellt. Er will zeigen, wo und wie die ungelenke unbeholfene Zeichnung des
Kindes schöpferische Qualitäten gewinnt, wo und wie das „Bild" geboren wird.
Er will den Sinn erschließen für die künstlerische Wahrheit und Echtheit der Kin-
derkunst. Und man wird finden, daß ihm das trefflich gelungen ist. Er besitzt ein
feines Einfühlungsvermögen in die Seele des Kindes ebenso wie in das Leben des
Kunstwerks. Er unterfährt seine Ausführungen mit den Grundlinien einer Ästhe-
tik, die an der Kinderkunst gewonnen und erprobt ihm als Mittel dient, die künst-
lerischen Werte der Kinderzeichnung selbst zu verstehen und dem Leser verständ-
lich zu machen. Aber wie die gründliche Aufklärung einer Teilerscheinung des
Lebens weit über ihr eigentliches Gebiet hinaus Licht verbreitet, so wächst die Ar-
beit des Verfassers über die Kinderzeichnung hinaus, sie wird die Aufmerksam-
keit nicht bloß des Pädagogen, sondern auch die des Kunsthistorikers, Ästhetikers
und Kunstfreunds erregen. In der Absicht, Verständnis zu wecken für die Kinder-
kunst, wird sein Buch zu einer Schule des Kunstverständnisses überhaupt.

Die Kinderzeichnung wird nach der Überzeugung des Verf. Kunst, wenn dem
Kind die Form der Naturgegenstände durchscheinend wird für das, was in ihrem
Innern vorgeht, für ein ihr immanentes Leben, wenn es diese lebendurchdrungene
Erscheinung hereinnimmt in die eigene aus seinem Lebensrhythmus entspringende
Darstellungart, in seine zeichnerische und malerische Gebärde und wenn es die
Bildelemente, die Gegenstände, die Linien und Farben seines Werkchens unbewußt
und instinktiv so ordnet, daß eine anschauliche Einheit des Bildganzen sich heraus-
bildet. Was Pfleiderer anläßlich dieser Ausführungen über einen mehr impressiven-
und einen mehr expressiven Typus des kindlichen Zeichnens und über den hand-
schriftlichen, interpretierenden und ornamentalen Charakter der zeichnerischen und
farbigen Gebäude sagt, sei besonderer Beachtung empfohlen.

Nach diesen Grundsätzen analysiert Pfleiderer die reiche, sorgfältig getroffene
Auswahl der Kinderzeichnungen, die seinem glänzend ausgestatteten Buch beige-
 
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