Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0314
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
300

BESPRECHUNGEN.

Geistes sollen vor uns aufwachsen in seinem Werk; ihre Umsetzung in Gehalt und
Form anzuschauen sind wir eingeladen. In diesen Lebensvorgang fließt auch ein
das Schicksal, daß Shakespeare ein Sohn der englischen Renaissance war — die
erst in ihm ihr überzeitliches Wort finden sollte — und daß er zugleich in und
außerhalb ihrer Gesellschaft steht. Es geht aber darin auch ein, daß er Erbe ist
aller früheren geschichtlichen Stufen seines Volkes. Denn in ihm sind noch deren
Blutskräfte und Geistformen bereit, die Züge seiner Gestalten zu prägen.
Gundolf aber sieht das alles nur, insofern es wiedergeboren wird in den Gestal-
tungen nicht als Verursachungen der Werke, sondern als deren Lebenskräfte. Und
auch die Erlebnisse der Person Shakespeare, ihre Quellen in Geschichte und Buch
— beides von der früheren Forschung festgestellt —, deuten nicht das Werk, son-
dern b e deuten vom Werk aus.

Das Buch enthält nichts als Dramenanalysen und nicht einmal einen zusammen-
fassenden Schlußabschnitt, der über die ganze Bahn hinschaute. Und doch bean-
sprucht es, Lebensbeschreibung zu sein. Wie löst sich dieser Widerspruch? Nur
die höchste Form des Lebens wird hier beschrieben, das geist- und wortgewordene
Leben. Die Entfaltung eines Geistes in die Reihe seiner Schöpfungen hinein und
nichts anderes. Hier liegt der Fall vor, daß in Folge einer besonders günstigen
Fügung es einem dramatischen Dichter vergönnt war, sich restlos zu erfüllen in
seiner gewiesenen Form, dem Drama, für das es damals eine wirkliche Bühne gab
und nach dem wahrhaft verlangt wurde von einer aufnehmenden Gesellschaft. Die
Geistesgeschichte dieses Dichters braucht also nicht aufgesucht zu werden außer-
halb seiner Dichtung, sondern sie ist eins mit dem Blühen und Welken seines
dichterischen Schaffenstriebes. Diese Einheit ist es, die Gundolf stets als Norm
alles Dichtertums postuliert hat. So ist es die gegebene Aufgabe für ihn, die Er-
füllung an Shakespeare darzustellen. Hier sind die Tatsachen seiner Forderung
ganz anders gemäß wie bei Goethe. Derart angesehen haben die Dramen eine zuvor
so nie erblickte Einheit. Diese Werke lesen heißt jetzt, die Gestalt Shakespeares
beschwören, sie verschwindet nicht hinter ihnen, sie tritt aus ihnen hervor.

Dies ist aber nur möglich, weil jede einzelne Dichtung ganz begriffen wird ein-
mal aus sich und dann als Punkt einer Lebensbahn. So arbeitet sich das Gesicht
des Schöpfers heraus mit Zügen, in die der Geist Notwendigkeit schrieb, die Werke
aber treten in eine innere Folge, bestimmt durch die jeweilige Lebensstufe, von
der ein Gipfelwerk zeugt, dem die anderen sich zuordnen. Dabei leisten freilich die
von der Forschung schon gegebenen Ansätze unentbehrliche Hilfe. Gundolfs neues
Buch ist also geschichtlich im gleichen Sinne wie sein Erstling, auch dies wie
„Shakespeare und der deutsche Geist" eine Kräfte geschichte, diesmal innerhalb
eines Menschengeistes, der zugleich Volk und Zeitraum darstellt.

Die Hauptwerke sind gesehen als Durchbrüche seiner einzelnen Seelengewalten,
wie dort die Stadien der Shakespeareaufnahme solche Durchbrüche der Kräfte
darstellten, die die Wiedergeburt deutschen Geistes bewirkten. Es vollendet sich
in den Hauptdramen Shakespeares Wesen innerhalb der Zeit, und zugleich werden
Weltkräfte, die jenen menschlichen Seelengewalten entsprechen, zu überzeitlichen
Gebilden.

Zwischen zwei Polen ist das Gewahrwerden der Kräfte gespannt. Man mag
sie mit dem Namen zweier Gipfelwerke benennen: Heinrich IV. und Lear. Das
weiteste Drama des jungen Shakespeare fängt noch einmal in sich alle Kräfte, die
schon einzeln Gebilde wurden, und läßt sie in die Lebensbreite strömen: das Durch-
dringen der Gesellschaft und das Durchdrungensein von ihr, — der Gewinn der
ersten Komödien —, das Bewußtwerden der staatlich-geschichtlichen Energien, das
die Historien schuf, die weltöffnende Erschütterung durch den Eros, die ihm den
 
Annotationen