FRÜHGOTIK DER DEUTSCHEN PLASTIK.
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rielle zu bezeichnen sein, das ein Stil da, wo er sich mit einem anderen
berührt, von diesem als Lehngut übernimmt. Übernimmt er es auch in
der Phase seiner Auflockerung, so ist er doch noch Stil genug, das
Fremde zu assimilieren. Er entlehnt Motive, die ihm wesensfremd sind,
und die er, weil er sie für willkürlich ablösbar und in einen fremden
Zusammenhang übertragbar hält, in Verkennung ihres ursprünglichen
Sinnes nicht anders als dekorativ-ornamental, als Oberflächenbesatz ver-
werten kann. Denn noch beharrt seine Substanz. Diese entzieht sich
einem tieferen Eingriff in ihre Gesetzlichkeit. So darf der Grad, in dem
etwa an einer Figur des frühen 13. Jahrhunderts das Materielle der fran-
zösischen Gotik angetroffen wird, die Frage ihrer Stilzugehörigkeit letzten
Endes nicht entscheiden. Ausschlaggebend ist, ob und inwieweit das
Prinzipielle der französischen Gotik verstanden ist.
II.
Die zunehmende Auflockerung und abnehmende Dichte der Substanz,
die ein Stil in seiner Spätphase erfährt, zwingt, zur Gewinnung seiner
Definition auf die Phase seiner reifen Entfaltung zurückzugreifen. Nur
auf diesem Wege ist eine Kontrolle des Verhältnisses zu erlangen, in dem
eine mit fremden Stilmomenten durchsetzte Spätphase zu dem Prinzip
des Stils (das sie in nicht mehr reiner Form vertritt) steht.
Die Werke der romanischen Plastik, die den Begriff der Hochphase
vermitteln, liegen sämtlich in den mittleren Jahrzehnten des 12. Jahr-
hunderts. Es sind Werke wie der Erfurter Leuchterträger („Wolfram"),
der Erfurter Altaraufsatz, der Magdeburger Friedrich von Wettin, die
Otzdorfer Mutter Gottes (Dresden), der Altaraufsatz in Oberpleis, die
Gröninger Empore, das Freudenstädter Lesepult. Diese Nennungen dür-
fen genügen. Sie bezeichnen für das mittlere Zwölfte monumentale Ur-
kunden ersten Ranges, denen wenig mehr aus der gleichen Zeit an die
Seite zu setzen ist.
Man hat den romanischen Stil als Stil der „Masse" definiert1). Diese
Definition konnte lediglich seiner Hochphase entnommen werden; denn
nur diese — nicht mehr die dritte, noch nicht die erste (obgleich sie selbst-
verständlich Teil an ihm haben, indem sie es noch und schon verkör-
pern) — läßt das Prinzip der „Masse" in einer der begrifflichen Bestim-
mung zugänglichen Reinheit in Erscheinung treten. In der ersten und
dritten Phase liegt die „Masse" überschichtet unter ihr als solcher nicht
eignenden Bestandteilen, aus denen sie sich in allmählicher Freimachung
einerseits heraushebt, in die sie sich andererseits in zunehmender Auf-
lockerung hineinverliert. Die Forschung entnahm das Prinzip des Stiles
Erwin Panofsky, Die deutsche Plastik des 11. bis 13. Jahrhunderts.
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rielle zu bezeichnen sein, das ein Stil da, wo er sich mit einem anderen
berührt, von diesem als Lehngut übernimmt. Übernimmt er es auch in
der Phase seiner Auflockerung, so ist er doch noch Stil genug, das
Fremde zu assimilieren. Er entlehnt Motive, die ihm wesensfremd sind,
und die er, weil er sie für willkürlich ablösbar und in einen fremden
Zusammenhang übertragbar hält, in Verkennung ihres ursprünglichen
Sinnes nicht anders als dekorativ-ornamental, als Oberflächenbesatz ver-
werten kann. Denn noch beharrt seine Substanz. Diese entzieht sich
einem tieferen Eingriff in ihre Gesetzlichkeit. So darf der Grad, in dem
etwa an einer Figur des frühen 13. Jahrhunderts das Materielle der fran-
zösischen Gotik angetroffen wird, die Frage ihrer Stilzugehörigkeit letzten
Endes nicht entscheiden. Ausschlaggebend ist, ob und inwieweit das
Prinzipielle der französischen Gotik verstanden ist.
II.
Die zunehmende Auflockerung und abnehmende Dichte der Substanz,
die ein Stil in seiner Spätphase erfährt, zwingt, zur Gewinnung seiner
Definition auf die Phase seiner reifen Entfaltung zurückzugreifen. Nur
auf diesem Wege ist eine Kontrolle des Verhältnisses zu erlangen, in dem
eine mit fremden Stilmomenten durchsetzte Spätphase zu dem Prinzip
des Stils (das sie in nicht mehr reiner Form vertritt) steht.
Die Werke der romanischen Plastik, die den Begriff der Hochphase
vermitteln, liegen sämtlich in den mittleren Jahrzehnten des 12. Jahr-
hunderts. Es sind Werke wie der Erfurter Leuchterträger („Wolfram"),
der Erfurter Altaraufsatz, der Magdeburger Friedrich von Wettin, die
Otzdorfer Mutter Gottes (Dresden), der Altaraufsatz in Oberpleis, die
Gröninger Empore, das Freudenstädter Lesepult. Diese Nennungen dür-
fen genügen. Sie bezeichnen für das mittlere Zwölfte monumentale Ur-
kunden ersten Ranges, denen wenig mehr aus der gleichen Zeit an die
Seite zu setzen ist.
Man hat den romanischen Stil als Stil der „Masse" definiert1). Diese
Definition konnte lediglich seiner Hochphase entnommen werden; denn
nur diese — nicht mehr die dritte, noch nicht die erste (obgleich sie selbst-
verständlich Teil an ihm haben, indem sie es noch und schon verkör-
pern) — läßt das Prinzip der „Masse" in einer der begrifflichen Bestim-
mung zugänglichen Reinheit in Erscheinung treten. In der ersten und
dritten Phase liegt die „Masse" überschichtet unter ihr als solcher nicht
eignenden Bestandteilen, aus denen sie sich in allmählicher Freimachung
einerseits heraushebt, in die sie sich andererseits in zunehmender Auf-
lockerung hineinverliert. Die Forschung entnahm das Prinzip des Stiles
Erwin Panofsky, Die deutsche Plastik des 11. bis 13. Jahrhunderts.