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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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Ziegenfuß, Werner: Die Idee einer künstlerischen Kultur in der Philosophie Friedrich Nietzsches
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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0374
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BEMERKUNGEN.

Ich glaube diese Frage beantworten zu können, zu der mich vor Jahren ein
Seminar Max Dessoirs über Nietzsches Philosophie angeregt hat. Ich möchte zei-
gen, wie im Kampf um eine künstlerische Kultur ein durchgehendes Grundproblem
und Grundthema der Philosophie Nietzsches gesehen werden kann. Dabei wird sich
allerdings bestätigen, daß Nietzsche kein theoretischer Philosoph ist, sondern daß
für ihn zuerst sein Wort gilt: „alles wirkliche Wahrheitsstreben ist in die Welt ge-
kommen durch den Kampf um eine heilige Oberzeugung" (W. W. G. — Große Ge-
samtausgabe Kröner — X, S. 125; vgl. auch W. — Kleine Ausgabe Kröner — IX,
S. 451 f., Nr. 602 f.; S. 453, Nr. 606 f.) Daß aber trotz der im Grunde unwissen-
schaftlichen, weil unsachlichen Absicht und Form der Philosophie Nietzsches ein
Ganzes von innerer Einheit und Gültigkeit geschaffen wurde, soll im folgenden ge-
zeigt werden. Aus der besonderen kulturellen Problematik heraus, mit der Nietzsche
kämpfte, hat es seinen guten Sinn, wenn er sich vorgenommen hat, „das Recht auf
den großen Affekt für den Erkennenden wieder zurückzugewinnen" (W. IX, S. 455,
Nr. 612). Dieser Affekt fand sein Ziel in der Idee einer künstlerischen Kultur.

Unsere Betrachtung soll ausgehen von der Frage: Woher, der Anregung wel-
cher Gedankengänge folgend, kommt Nietzsche weltanschaulich zu seiner leiden-
schaftlich verfochtenen Idee einer künstlerischen Kultur? Wir fragen weiter: Wie
begründet diese Idee sich in der Struktur seines eigenen Erlebens? Wir kommen
dann zur Darstellung der inneren Gestalt dieses Gedankens und werden endlich,
immer von „innen" nach „außen" weitergehend, an die notwendigen Grenzen dieser
Kulturanschauung geführt.

1. Die weltanschauliche Anregung für die Idee einer künst-
lerischen Kultur.
Von Schopenhauer empfängt Nietzsche für die ganze Zeit seines Schaffens zwei-
erlei: die Art, „philosophisch" zu schauen, die für ihn von wissenschaftlicher Be-
trachtung grundverschieden ist, und der Gedanke des Willens als der Urmacht der
Welt. Die Kunst Richard Wagners bestätigt ihn hierin, vermittelt ihm aber den
Weg über Schopenhauer hinaus in der Deutung des Phänomens der Kunst. Schopen-
hauers Deutung des Weltwillens war ethisch, Nietzsches Deutung wird aus dem Er-
lebnis der Kunst Wagners heraus ästhetisch-künstlerisch. Im künstlerischen Schaf-
fen befreit sich der Wille zu freier Schau, vergleichbar dem gebrochenen Lichtstrahl,
der aus dem weißen Licht alle Buntheit der Welt hervorzaubert. (Vgl. W. W. G. IX,
S. 186; ferner: S. 189, Nr. 131; S. 190, Nr. 132; S. 206, Nr. 153 u. ö. Außerdem:
G. Schwabe, Fichte und Schopenhauers Lehre vom Willen, Diss. Jena 1887, S. 5 ff.)
Reduziert man die Schilderungen Nietzsches auf die anschaulichen Erlebnisgründe,
von denen sie getragen sind und die oft selbst geschildert werden, dann kann man
sagen, es sei ein Wandel in der Phänomenologie des Willens zwischen Nietzsche und
Schopenhauer festzustellen, der in Nietzsche selbst eine neue innere Haltung weckt
und zugleich ausdrückt und damit den Boden schafft für seine neue Deutung der Kul-
tur. Der „Wille" ist als dionysischer Rausch nicht nur ein „amoralisches" Phäno-
men, sondern als bildschöpferische Seele der Musik erlangt er eine durch-
aus neue Erlebnisbedeutung und einen neuen Rang, vor allem neue Aufgaben im gan-
zen menschlichen Dasein, das heißt in der Kultur. Er ist das Grundphäno-
men der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Diese Tragödie ist aber,
wie wir sehen werden, die Tragödie der Kulturidee Nietzsches selbst, denn sie ist
die Tragödie zwischen Wissen und Rausch, zwischen Skepsis und gläubig-schöpfe-
rischer Hingabe, wie sie sich objektivieren in den großen, anscheinend unversöhn-
lichen Kulturmächten von Wissenschaft und Kunst.
 
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