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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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Ziegenfuß, Werner: Die Idee einer künstlerischen Kultur in der Philosophie Friedrich Nietzsches
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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0384
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BEMERKUNGEN.

Auch an diesem Punkt löst sich eine tragische Spannung auf in dialektische
Bewegung, wie wir es ebenso sahen im Verhältnis von Kunst und Wissenschaft.
Doch hier gibt es keinen Ausweg. Gerade die Reinheit von Nietzsches Idee der
künstlerischen Kultur verlangt die Abkehr von menschlichen Wirklichkeiten, die un-
umgänglich auch von Nietzsche selbst vorausgesetzt werden müssen, um diese Idee
auch nur grundsätzlich realisierbar zu machen. Der Kreis um Stefan George, ganz
aus der gleichen Idee vom Wesen und den Aufgaben der Kunst lebend, hat in die-
sem soziologischen Sachverhalt seine innere Antinomie, Tragik und, menschlich
gesehen: Grenze. Über die Moral der „Herde" kann sich die freie persönliche Moral
des Übermenschen im künstlerischen Sinn hinwegsetzen. Denn hier liegt die ganze
Aufgabe in der Persönlichkeit selbst. Soll aber die künstlerische Kultur in der ganzen
Breite verwirklicht werden, die in der Definition als „Einheit des künstlerischen Stiles
in allen Lebensäußerungen eines Volkes" liegt, dann muß mit der sozialen Wirk-
lichkeit paktiert werden, sonst endet die Kultur notwendig bei dem Geniekult und
der „Kunst der Kunstwerke". Ein solcher Pakt aber muß mit den ganz unkünst-
lerischen, ganz unpersönlichen Notwendigkeiten des sozialen Lebens rechnen, und
wir sehen schließlich ein, daß hier, anders als im Problem der Wissenschaft, eine
Spannung, eine Unvereinbarkeit auftritt, die den Charakter der echten Antinomie hat,
und wir sehen, daß hier das Denken Nietzsches selbst in seiner völlig sachlichen,
durch keinerlei Subjektivität getrübten Konsequenz vor eine Grenze führt, die un-
serer menschlichen Wirklichkeit überhaupt eigentümlich ist.

Übermenschlich im ästhetisch-künstlerischen Sinn zu werden kann vielleicht ein
Einzelner sich vornehmen. Die soziale Wirklichkeit erträgt nicht eine solche Über-
steigerung des Kunstwillens. Es bleibt daher nichts übrig, als den jeweiligen Zu-
stand in seiner Spannung hinzunehmen. Jeder Wille, in der sozialen Wirklichkeit
ein absolutes, wie Ibsen sagt, „Drittes Reich" zu begründen ist verfehlt. Nietzsches
Idee würde ein solches fordern müssen, wollte sie auf ihrer Reinheit bestehen. Stefan
George nennt, offenbar ganz im Geist dieser Forderung, einen Band seiner Werke
das „Neue Reich". Was lyrisch wirklich ist bleibt sozial utopisch, wenn es aus-
schließlich gelten will. Vermeiden wir diesen Anspruch der Unbedingtheit aber, so
gibt sie uns eine fruchtbare Aufgabe von größter, konkreter Bedeutung für die Zu-
kunft in der Versöhnung der sozialen Wirklichkeit mit dem Willen zur Steigerung
des Menschen, die sich erfüllt in einer künstlerischen Kultur des Volkes.
 
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