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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0406
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392

BESPRECHUNGEN.

sich wohl bewußt ist, wie schwierig es einem wird, eine moderne Richtung zu deuten,
besonders, wenn es sich um ein so heftiges Aufflammen des Geistes handelt wie
beim Expressionismus, hat er sich alle erdenkliche Mühe gegeben, um aus der er-
staunlich reichen Literatur über dies Thema einen möglichst klaren Begriff zu ge-
winnen. Da die Bewegung in keinem andren Lande so gewütet hat wie in Deutsch-
land, hat der Verfasser in erster Linie die wissenschaftlichen Werke über den Ex-
pressionismus in deutscher Sprache wie die deutschen Erzeugnisse der Gattung stu-
diert. Da er außerdem die schwedische Sprache beherrscht, hat er erstens Strind-
berg in Original lesen können und darin die wissenschaftliche Literatur in schwe-
discher Sprache, die in Betracht kommt. Alles in allem ist eine sehr fleißige, gewis-
senhafte Arbeit zustande gekommen, mit sehr ausgiebigen Zitaten aus der Fülle
der Fachliteratur und Strindbergs Werken.

Die Abhandlung beginnt mit einer Einleitung, die nicht weniger als 80 Seiten
umfaßt und ein Bild gibt von der Bedeutung des Expressionismus in der Kunst, in
der Literatur überhaupt und im Drama. Was hier gesagt wird, ist lediglich ein Aus-
zug aus andren Werken, wobei der Verfasser sich am eingehendsten mit den so-
genannten „Ausstrahlungen des Ichs" im Expressionismus beschäftigt.

Nach dieser Leistung geht er zu Strindbergs Dramen über und behandelt zuerst
„die sogenannten naturalistischen Dramen", Der Vater, Fräulein Julie, Totentanz,
dann die Damaskustrilogie, Advent, Rausch, Ostern, Mitsommer, Schwanenweiß,
Kronbraut, das Traumspiel, die Kammerspiele und die zwei Fragmente der Hollän-
der und die Toteninsel. Man darf aber annehmen, daß der Verfasser, bevor er sich
für diese stattliche Auswahl entschied, auch die andren Dramen geprüft hat.

Das Ergebnis ist folgendes. Fräulein Julie ist kein expressionistisches Drama.
Wohl aber der Vater, ein Drama, das nur aus Versehen zu den naturalistischen
gerechnet worden ist; es hat Typisierung, einen elementaren Kampf der Gegensätze,
Ausstrahlungen des Ichs, autobiographischen Hintergrund. Auch das Totentanz-
drama kann nicht wie früher zur naturalistischen Gruppe gerechnet werden, sondern
ist durch den elementaren Kampf der Geschlechter, von zwei primitiven Wesen aus-
geführt, sehr geeignet für ein deutsches expressionistisches Drama. Es handelt sich
um keine Nachbildung einer beobachteten Wirklichkeit, sondern um Ausstrahlungen
von Strindbergs Ich. Die Damaskustrilogie wird ausführlich analysiert, um schließ-
lich restlos zur expressionistischen Gruppe gerechnet zu werden. Was die Dramen
zwischen dieser und dem Traumspiel betrifft, so haben Advent, Ostern starke Spu-
ren vom Expressionismus, während Mitsommer, Schwanenweiß, Kronbraut frei
davon sind. Das Traumspiel wiederum ist ein ganz besonders typisches Drama mit
allen Zeichen des Expressionismus. Von den Kammerspielen ist in erster Linie die Ge-
spenstersonate als typisch hervorzuheben.

Zu den Urteilen über die einzelnen Werke muß gesagt werden, daß Dahlströms
Umwertung in bezug auf Der Vater doch beweist, daß er sich über den Naturalis-
mus nicht ebenso klar ist wie über den Expressionismus. Die reinsten Beispiele des
naturalistischen Dramas haben weder Strindberg noch Ibsen gegeben, eher gehören
ihre Dramen — und zwar als die ersten — dem stilisierten Naturalismus an. Haupt-
manns Vor Sonnenaufgang und das Milieudrama ohne Held, Die Weber, sind ideale
Musterbeispiele des Naturalismus. Aber trotzdem — die Dramen Strindbergs um
1890 herum hätten niemals die große Wirkung ausgeübt, wenn sie nicht unmittel-
bar aus der Forderung der Zeit geboren wären, und diese Forderung war unerhört
gesteigerte Wirklichkeitsillusion auf der Bühne! Wenn Dahlström erklärt, Der Vater
sei nicht „Leben gesehen durch ein Temperament", kann man ihm unter keinen
Umständen Recht geben, denn was ist es sonst? Ganz deutlich spürt man Strind-
 
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