GOETHE UND DAS ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT. 131
schöpfbar ist; daß es, nachdem seine vollkommene Lösung einmal
gefunden ist, in gewissem Sinne „erledigt" sei. So erklärt Voltaire,
man dürfe nicht glauben, daß die großen tragischen Leidenschaften und
die großen Gefühle sich auf unendliche Art variieren und sich immer
wieder in neuer Weise darstellen lassen. „Alles hat seine Grenzen; und
so haben auch die Tragödie und die hohe Komödie die ihren. Es gibt in
der menschlichen Natur höchstens ein Dutzend wirklich-komischer Cha-
raktere, die sich in großen Zügen bezeichnen lassen. Der Abbe Dubos,
der selbst kein Mann von Genie war, hat gemeint, daß ein Genie noch
eine Fülle neuer Charaktere erfinden könne; aber dazu wäre erforderlich,
daß die Natur einen neuen Charakter schüfe. Die Nuancen sind freilich
unzählig; aber die hervorstechenden Grundzüge, auf die es dem Künstler
ankommt, finden sich nur in beschränkter Zahl. Nachdem Lafontaine
einmal eine bestimmte Zahl von Fabeln verfaßt hat, läuft alles, was man
hinzufügen kann, immer nur auf die gleiche Moral und fast auf die glei-
chen Ereignisse hinaus|T>o hat auch das Genie nur ein Jahrhundert — und
es muß, wenn die Zeit abgelaufen, notwendig degenerieren'^ Das Kunst-
werk baut sich aus endlichen, durch die Natur der Dinge und durch die
menschliche Natur vorgegebenen Elementen auf — und der Phantasie
bleibt keine andere Funktion und kein anderer Spielraum, als diese Ele-
mente zu kombinieren und sie zuletzt in dieser Kombination zu erschöpfen.
Goethe hat, in der Naturbetrachtung wie in der Künstbetrachtung,
gegen eine derartige Auffassung protestiert: sie erschien ihm als die
radikale Verkennung der eigentlichen Urkraft und Lebenskraft der Natur
und der Kunst. Aus dieser seiner Grundanschauung heraus hat er selbst
den Namen der künstlerischen „Komposition" leidenschaftlich be-
kämpft. „Wie kann man sagen: Mozart habe seinen Don Juan kompo-
niert! Komposition! Als ob es ein Stück Kuchen oder Biskuit
wäre, das man aus Eiern, Mehl und Zucker zusammenrührt!"2). Im
gleichen Sinne wendet sich Goethe gegen jene flache Vorstellung des
künstlerischen Ideals und der künstlerischen Idealisierung, die da meint,
den Sinn des Ideals damit erklären zu können, daß man es als etwas „aus
verschiedenen schönen Teilen Zusammengesetztes" bezeichnet. Diese Er-
klärung schließt nach ihm einen völligen Zirkel ein: „denn woher käme
denn der Begriff von den schönen Teilen selbst und woher stammt denn
die Forderung eines schönen Ganzen?" Diese Forderung zum mindesten
ist kein bloßer aus der Erfahrung gezogener und aus ihr stückweise
zusammengelesener Begriff; sie ist ein Imperativ, der nur von innen,
nicht von außen — vom Zentrum des schöpferischen Prozesses der Ge-
1) Voltaire, Suite de Louis XIV, Ch. 32.
-') Zu Eckermann, 20. Juni 1831, Gespr. IV, 377.
schöpfbar ist; daß es, nachdem seine vollkommene Lösung einmal
gefunden ist, in gewissem Sinne „erledigt" sei. So erklärt Voltaire,
man dürfe nicht glauben, daß die großen tragischen Leidenschaften und
die großen Gefühle sich auf unendliche Art variieren und sich immer
wieder in neuer Weise darstellen lassen. „Alles hat seine Grenzen; und
so haben auch die Tragödie und die hohe Komödie die ihren. Es gibt in
der menschlichen Natur höchstens ein Dutzend wirklich-komischer Cha-
raktere, die sich in großen Zügen bezeichnen lassen. Der Abbe Dubos,
der selbst kein Mann von Genie war, hat gemeint, daß ein Genie noch
eine Fülle neuer Charaktere erfinden könne; aber dazu wäre erforderlich,
daß die Natur einen neuen Charakter schüfe. Die Nuancen sind freilich
unzählig; aber die hervorstechenden Grundzüge, auf die es dem Künstler
ankommt, finden sich nur in beschränkter Zahl. Nachdem Lafontaine
einmal eine bestimmte Zahl von Fabeln verfaßt hat, läuft alles, was man
hinzufügen kann, immer nur auf die gleiche Moral und fast auf die glei-
chen Ereignisse hinaus|T>o hat auch das Genie nur ein Jahrhundert — und
es muß, wenn die Zeit abgelaufen, notwendig degenerieren'^ Das Kunst-
werk baut sich aus endlichen, durch die Natur der Dinge und durch die
menschliche Natur vorgegebenen Elementen auf — und der Phantasie
bleibt keine andere Funktion und kein anderer Spielraum, als diese Ele-
mente zu kombinieren und sie zuletzt in dieser Kombination zu erschöpfen.
Goethe hat, in der Naturbetrachtung wie in der Künstbetrachtung,
gegen eine derartige Auffassung protestiert: sie erschien ihm als die
radikale Verkennung der eigentlichen Urkraft und Lebenskraft der Natur
und der Kunst. Aus dieser seiner Grundanschauung heraus hat er selbst
den Namen der künstlerischen „Komposition" leidenschaftlich be-
kämpft. „Wie kann man sagen: Mozart habe seinen Don Juan kompo-
niert! Komposition! Als ob es ein Stück Kuchen oder Biskuit
wäre, das man aus Eiern, Mehl und Zucker zusammenrührt!"2). Im
gleichen Sinne wendet sich Goethe gegen jene flache Vorstellung des
künstlerischen Ideals und der künstlerischen Idealisierung, die da meint,
den Sinn des Ideals damit erklären zu können, daß man es als etwas „aus
verschiedenen schönen Teilen Zusammengesetztes" bezeichnet. Diese Er-
klärung schließt nach ihm einen völligen Zirkel ein: „denn woher käme
denn der Begriff von den schönen Teilen selbst und woher stammt denn
die Forderung eines schönen Ganzen?" Diese Forderung zum mindesten
ist kein bloßer aus der Erfahrung gezogener und aus ihr stückweise
zusammengelesener Begriff; sie ist ein Imperativ, der nur von innen,
nicht von außen — vom Zentrum des schöpferischen Prozesses der Ge-
1) Voltaire, Suite de Louis XIV, Ch. 32.
-') Zu Eckermann, 20. Juni 1831, Gespr. IV, 377.