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ERNST CASSIRER.
harmonische Behagen ihm ein reines freies Entzücken gewährt; dann
würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel
gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens
bewundern"1). Und so gilt auch, daß nur von diesem Gipfel aus sich
das Werden der Natur und die Entwicklung und der Aufstieg des Lebens
wahrhaft verstehen läßt. Nur im Schaffen und durch das Schaffen wird
uns die Erfahrung zuteil, wie Natur im Schaffen lebt. Dieser Anschau-
ung hat Goethe als Künstler und als Forscher niemals entsagt — und
er gibt sich ihr ohne jeden „kritischen" Skrupel und Zweifel hin. Auch
durch Kant fühlte er sich zuletzt in ihr nur bestärkt und aufs neue ge-
festigt. Es gilt für den Bereich des Intellektuellen, wie es für den Bereich
der Kunst und der Sittlichkeit gilt, daß wir die Hoffnung nicht aufgeben
können, uns „durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur
geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig zu machen"2). Jetzt
stehen sich „Subjekt" und „Objekt" nicht mehr wie getrennte Seins-
kreise gegenüber: denn die Tätigkeit des Subjekts ist das einzige Medium,
in dem und kraft dessen wir die Wahrheit der Gegenstände erfassen
können — ist doch diese Wahrheit selbst nichts Starres und schlechthin-
„Feststehendes", sondern ein unablässiger Prozeß des Gestaltens und
Umgestaltens; ein Geschehen und ein Tun, nicht ein bloßes Sein.
Und in dieser einen Voraussetzung liegen nun zugleich alle be-
sonderen Züge von Goethes Naturbetrachtung vorgezeichnet. Der Gegen-
satz, in dem er sich zur Naturwissenschaft seiner Zeit fühlt, ist hierin
vollständig enthalten und vollständig begründet. Damit ergibt sich zu-
gleich ein merkwürdiger Parallelismus, der, so viel ich sehe, in der
Goethe-Forschung kaum jemals beachtet und in seiner vollen Bedeutung
gewürdigt worden ist. Denn es zeigt sich jetzt, daß Goethes Kritik an der
Naturforschung des achtzehnten Jahrhunderts genau den gleichen
Weg geht, den seine Kritik an der P o e t i k des achtzehnten Jahrhunderts
eingeschagen hatte. In beiden Fällen bekämpft er das gleiche Grund-
gebrechen, in beiden widersetzt er sich der „starren Vorstellungsart",
nichts könne werden, als was schon sei — einer Vorstellungsart,
von der er sagt, daß sie sich aller Geister bemächtigt habe3). Dem
Zwang der vorgegebenen, der in ihrem Wesen feststehenden und prae-
formierten Gattungen vermag er sich so wenig in der Morphologie wie
in der Poesie zu fügen. So ist es ein und derselbe Gesichtspunkt, kraft
dessen Goethe Boileaus Philosophie der Dichtkunst und Linnes Philo-
sophie der Botanik verwirft. Beiden wirft er vor, daß sie in i h r e r Art
das Generelle zu suchen und zu bestimmen, die Fülle des Besonderen
0 Winckelmann, Weim. Ausg. 46, 22.
-') Ausdauernde Urteilskraft, Naturw. Schriften, XI, 55.
3) Campagne in Frankreich, November 1792, W. A. 33, 197.
ERNST CASSIRER.
harmonische Behagen ihm ein reines freies Entzücken gewährt; dann
würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel
gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens
bewundern"1). Und so gilt auch, daß nur von diesem Gipfel aus sich
das Werden der Natur und die Entwicklung und der Aufstieg des Lebens
wahrhaft verstehen läßt. Nur im Schaffen und durch das Schaffen wird
uns die Erfahrung zuteil, wie Natur im Schaffen lebt. Dieser Anschau-
ung hat Goethe als Künstler und als Forscher niemals entsagt — und
er gibt sich ihr ohne jeden „kritischen" Skrupel und Zweifel hin. Auch
durch Kant fühlte er sich zuletzt in ihr nur bestärkt und aufs neue ge-
festigt. Es gilt für den Bereich des Intellektuellen, wie es für den Bereich
der Kunst und der Sittlichkeit gilt, daß wir die Hoffnung nicht aufgeben
können, uns „durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur
geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig zu machen"2). Jetzt
stehen sich „Subjekt" und „Objekt" nicht mehr wie getrennte Seins-
kreise gegenüber: denn die Tätigkeit des Subjekts ist das einzige Medium,
in dem und kraft dessen wir die Wahrheit der Gegenstände erfassen
können — ist doch diese Wahrheit selbst nichts Starres und schlechthin-
„Feststehendes", sondern ein unablässiger Prozeß des Gestaltens und
Umgestaltens; ein Geschehen und ein Tun, nicht ein bloßes Sein.
Und in dieser einen Voraussetzung liegen nun zugleich alle be-
sonderen Züge von Goethes Naturbetrachtung vorgezeichnet. Der Gegen-
satz, in dem er sich zur Naturwissenschaft seiner Zeit fühlt, ist hierin
vollständig enthalten und vollständig begründet. Damit ergibt sich zu-
gleich ein merkwürdiger Parallelismus, der, so viel ich sehe, in der
Goethe-Forschung kaum jemals beachtet und in seiner vollen Bedeutung
gewürdigt worden ist. Denn es zeigt sich jetzt, daß Goethes Kritik an der
Naturforschung des achtzehnten Jahrhunderts genau den gleichen
Weg geht, den seine Kritik an der P o e t i k des achtzehnten Jahrhunderts
eingeschagen hatte. In beiden Fällen bekämpft er das gleiche Grund-
gebrechen, in beiden widersetzt er sich der „starren Vorstellungsart",
nichts könne werden, als was schon sei — einer Vorstellungsart,
von der er sagt, daß sie sich aller Geister bemächtigt habe3). Dem
Zwang der vorgegebenen, der in ihrem Wesen feststehenden und prae-
formierten Gattungen vermag er sich so wenig in der Morphologie wie
in der Poesie zu fügen. So ist es ein und derselbe Gesichtspunkt, kraft
dessen Goethe Boileaus Philosophie der Dichtkunst und Linnes Philo-
sophie der Botanik verwirft. Beiden wirft er vor, daß sie in i h r e r Art
das Generelle zu suchen und zu bestimmen, die Fülle des Besonderen
0 Winckelmann, Weim. Ausg. 46, 22.
-') Ausdauernde Urteilskraft, Naturw. Schriften, XI, 55.
3) Campagne in Frankreich, November 1792, W. A. 33, 197.