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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0197
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BESPRECHUNGEN.

183

Dieser Y. mit Dilthey gemeinsame Gedanke erfährt nun eine doppelte Radi-
kalisierung. Leben ist nicht allein der „Strukturzusammenhang des Seelenlebens",
auf den Dilthey in seinen „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psy-
chologie" hinzielte; Leben ist primär geschichtlich; „gerade so wie Natur bin
ich Geschichte" (Br. 71). In der Besinnung auf sich selber findet das Leben sich
in der Geschichte verwurzelt, entdeckt in sich Geschichte als „Empfindungsrealität"
(vgl. Kaufmann; hier abgekürzt K. 46 ff.), spürt sich geschichtlichen Kräften „zu-
gehörig", findet das .Vergangene' dank der Permanenz der geschichtlichen Kräfte
>,virtuell" in sich vor. Geschichte ist nicht etwas Vergangenes und Gewesenes, das
auf uns wie ein Ballast lastet, uns determiniert und bedingt wie die äußere Natur,
etwas, dem wir ausgeliefert sind, sie stellt sich nicht als ein Gegenstand dar: uns
gegenüber, uns fremd, von uns abgehoben, wie wir im Abstand von ihr. Wir haben
von ihr eine prinzipiell andere Erfahrung als von dem uns nicht zugehörigen gegen-
ständlichen', es besteht eine „generische Differenz zwischen Ontischem und Histo-
rischem" (Br. 191).

Wir werden ihrer in der Selbstbesinnung inne als einer Kraft, in der unser
Leben ruht, und an der es seinen Halt hat; sie ist unserem Wesen auf das innigste
vertraut, da wir in ihr und aus ihr leben. Nur so lange führen wir ein volles, un-
gebrochenes Leben, als wir der geschichtlichen Kräfte, in denen wir stehen und die
unsre Daseinsposition formen, in die wir hineingewachsen sind, und die wir uns
nicht in freier Wahl ausgesucht haben, uns in der Selbstbesinnung versichern, sie
uns innerlich aneignen und ihre echten Motive nach Abscheidung des Unlebendigen
zur Geltung bringen. In der geschichtlichen Besinnung kommt das Leben zu sich
selber, zu seinem eigenen Lebenssinn. — Geschichtliche Kräfte und Motive sind für
V. stets persönliche, von Personen ausgehend, auf Personen wirkend. „... ich glaube
nun einmal ..., daß Menschen und nicht daß hand- und fußlose Ideen die Geschichte
bewegen" (Br. 174). „Luther, Augustin, Paulus wirken auf mich gegenwärtig und
körperlos" (Br. 192). Zwischen Leben und Leben gibt es einen intimen „Rapport",
eine unmittelbare Verbindung und Verständigung (K. 50 ff.). Leben spricht auf
Leben an, Leben empfindet jedes andere Leben als zugehörig und vertraut, als
»brüderlich und verwandt in anderem, tieferen Sinne als die Bewohner von Busch
und Eeld" (Br. 133). Weil Leben jederzeit geschichtliches Leben ist, und weil Ge-
schichte Äußerung, Entfaltung von Leben ist, haben wir zu allem Geschichtlichen
und Lebendigen eine Vertrautheit der Beziehung, eine Intimität des Begreifens und
Verstehens, wie wir sie dem Ontischen gegenüber in dieser Weise nicht besitzen.
Wir sprechen den anderen Menschen als „Mitmenschen" an, weil wir ihn uns zu-
gehörig wissen; wir stehen mit ihm in einem von geschichtlichen Kräften gebildeten
und getragenen Lebenszusammenhang, in der Einheit eines geschichtlichen Lebens:
■n einem awösa^iög. (Vgl. K. 66 Anm. 6.) Der Mensch ist für Y. primär kein Natur-
wesen, auch kein autonomes, ethisches Wesen im Sinne Kants (K. 78 ff.), vielmehr
dadurch bestimmt, daß er einem geschlichen Zusammenhang angehört, aus die-
sem die Kräfte seiner Existenz zieht: er ist. „Glied der geschichtlichen Lebens-
gemeinschaft" (K. 56). '

Die zweite und entscheidende Radikalisierung erfährt der lebensphilosophische
Gedanke in der Wendung zum christlichen ovvdeoßög als dem eigentlichen und vol-
len, dem — wie es zuweilen heißt — konkreten Lebenszusammenhang in einem ab-
soluten Sinne. An dieser Stelle beginnen die ernsten Differenzen zwischen Dilthey
und Yorck, indem dieser den christlichen ovvöeoßög nicht als paradigmatisches Bei-
spiel einer der möglichen Entfaltungen einer allgemeinen und sich immer gleich-
bleibenden Menschennatur gedeutet wissen wollte (K. 58 und 71). Der Lebenszusam-
 
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