Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

DOI Artikel:
Groethuysen, Bernhard: Die "naturalistische" Ästhetik und die zeitgenössische Literatur in Frankreich
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0268
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
254

BERNHARD GROETHUYSEN.

zeit gesprochen hat, so-ließe sich hier von einem Versuch einer Ästhe-
tisierung ursprünglich außerkünstlerischer Werte sprechen. . 4

Die für die „naturalistische" Ästhetik entscheidenden Werte sind nun
vor allem von zweierlei Art. Einmal gehören sie dem Bereich der wissen-
schaftlichen Einstellungsweisen an. Man könnte sie ganz allgemein als
typisch „scientifische" Werte bezeichnen. Zu vermeiden hingegen oder
doch nur mit Vorsicht zu gebrauchen wäre der Ausdruck: Positivismus.
Nicht das, was Auguste Comte über die Wissenschaften ausgeführt hat,
kommt hier vor allem in Betracht, sondern der Eindruck der wissenschaft-
lichen Leistungen als solcher. Die in den exakten Wissenschaften ange-
wandten Methoden haben zu erstaunlichen Erfolgen geführt. Hier
erfassen wir Wirklichkeit, wobei von erkenntnistheoretischen Problem-
stellungen zunächst ganz abgesehen werden kann. Strebt also der Künst-
ler nach Wirklichkeit, so scheint es naheliegend, daß er sich wissenschaft-
licher Methoden bedient. Die Kunst erscheint der Wissenschaft gegenüber
als das Irreale; sie soll sich gewissermaßen rehabilitieren, indem sie eine
Verbindung mit der Wissenschaft eingeht. Sie kann fortan ihre Rolle im
gesellschaftlichen Leben nur spielen, wenn sie sich vom Geiste der
Wissenschaft durchdringen läßt.

Zum anderen handelt es sich um einen Wertkomplex, den man etwa
als „soziale Gesinnung" bezeichnen kann. Es kommen dabei eine Reihe
von Tendenzen in Betracht, die dazu führen, daß der Mensch dieser Zeit
es als seine Aufgabe ansieht, sich dem „Volke" anzunähern, sein Leben
und seine Bedürfnisse kennen zu lernen, ihm Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen u. dgl. m. Das Bürgertum will seine soziologisch bedingte
Isolierung gegenüber den Massen aufheben. So handelt es sich hier um
eine ethisch-politische Haltung, wie sie innerhalb der demokratischen
Tendenzen zu steigender Geltung gelangt. Diese Haltung soll sich nun
auch in der Kunst auswirken. Die Kunst soll „sozial" sein.

Die Wissenschaftstendenz und die sozialen Tendenzen müssen dabei
voneinander unterschieden werden. Die Wissenschaftstendenz ist vor
allem intellektuell. Der Künstler, soweit er sich durch den Geist der
Wissenschaft bestimmen läßt, strebt danach, die Rolle des unparteiischen
Beobachters zu spielen1). Die soziale Tendenz dagegen hat einen aus-
gesprochen emotiven Charakter. Hier spielt das „Herz" eine entscheidende
Rolle. Die wissenschaftliche Einstellung ist anti-romantisch; die soziale
Einstellung hingegen steht in direkter Beziehung zu der französischen
Romantik. In der gefühlsmäßigen Hinwendung zum Volke liegt einer
der Wesenszüge dieser Romantik. Sie ist, wenigstens einer ihrer typischen
Richtungen nach, Volksromantik. Diese Volksromantik findet ihren be-

l) Vgl. dazu König: S. 39, 49 ff. u. a.
 
Annotationen