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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0342
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328

BESPRECHUNGEN.

dabei ist freilich, daß Verschiedenheiten unterschätzt werden und daß im besonde-
ren die Einmaligkeit und auch die Motivenfülle der einzelnen Kunstwerke zu
kurz kommen.

Wenn ich nun einige Beispiele gebe, so beginne ich mit einem, wo ich
ohne Einschränkung zustimmen kann, den Bemerkungen über die Wahlver-
wandtschaften. Sie gehen über alles, was mir aus der Literatur darüber
bekannt ist, weit hinaus, nur daß eben auch hier die künstlerischen Fragen zu
sehr beiseite bleiben. Das Beispiel zeigt, wozu diese Richtung der Forschung fähig
ist, aber es ist vielleicht kein Zufall, daß Goethe, wie wir hörten, in diesem einzi-
gen Fall das Problem einer größeren Dichtung verstandesmäßig durchgeführt hat.
In der ganz zu Ende gedachten Auseinanderlegung dieses Problems ist Korff un-
vergleichlich intensiver und feinsinniger als etwa gegenüber dem Tasso, auf den
ich noch komme. Hier öffnen sich immer neue Prospekte hintereinander, es er-
schließen sich sehr mannigfaltige Perspektiven, und es wird eine Gerechtigkeit in
der Abwägung aller Faktoren erreicht, die man an anderen Stellen des Buches
vermißt. Hier lehnt der Verfasser gewisse grobe Entscheidungen mit einseitigem
Für und Wider ab, deren er sich anderwärts nicht immer enthalten hat. Das liegt
daran, daß ihn das Problem der Ehe mehr und positiver interessiert als etwa das
des Künstlers, wie er überhaupt vor allem ethisch, nicht ästhetisch gerichtet ist.

Darum gelang ihm auch die Darstellung der Iphigenie viel besser als
die des Tasso, nur daß leider auch die besonderen ästhetischen Werte des Ethischen
unberücksichtigt bleiben. Auch zeigt sich hier schon eine Vorliebe für rein geistige
Erklärung auf Kosten der psychologischen, etwa bei Orestens Heilung, die jedoch
nicht in der Hauptsache durch bewußte Überlegungen begreiflich zu machen ist.
Orest erleidet eine pathologische Krise, die zur Gesundung führt, aber solche Natur-
zustände findet Korff anscheinend nicht geistig genug. Auch die elementare Wir-
kung von Iphigeniens menschlichem Zauber auf das zerstörte Gemüt des umher-
gehetzten Bruders wird von Korff in einem Nebensatz erledigt, die bewußte Reue
aber, die ihn durch ihre Gegenwart erst recht ergreife, dann aber zugunsten posi-
tiverer moralischer Haltungen überwunden werde, wird breit behandelt und philo-
sophisch gedeutet. Wie steht es denn für einen künstlerisch anschauenden und
hörenden Betrachter, der nicht vor allem auf tiefe Gedanken aus ist, mit Goethe
(siehe oben) zu sprechen? Ich halte mich möglichst an die Worte des Stückes: von
den Furien und der Reue gejagt, kommt Orest in den Tempelbezirk, der den Furien
verwehrt ist, wo er also Ruhe vor ihnen hat. Dann aber von der Erzählung seiner
Tat mit all den ausführlichen Erinnerungen aufgewühlt bis zur Verwirrung, er-
kennt er in lichteren Augenblicken den „erbarmenden" Blick der Schwester, er sieht
ihre „Liebe" und sagt ihr, daß auch er sie lieben könnte wie seit lange keinen
Menschen, wenn sie ihn nun eben nicht töten müßte. Durch diese letzte Vorstellung
von neuem erschüttert, fällt er in „Ermattung". Aus der wohltätigen „Betäubung"
erwachend, fühlt er erleichtert, daß die Qual in ihm sich endlich erschöpft hat, nach-
dem er sich ganz ausgesprochen und freundliche, ermutigende Eindrücke von der
wiedergefundenen Schwester empfangen hat, die doch auch zu dem scheinbar für immer
verfluchten Geschlecht gehört und dennoch von jeder Schuld, also offenbar auch von
dem Fluche frei ist. Nun sieht er auch im halben Traum die Ahnen und auch die
Eltern im Jenseits versöhnt. Der Anblick der wieder gütig hinzutretenden Schwester
vollendet die Heilung, „es löset sich der Fluch". Orest sieht in Iphigeniens Wesen
also nicht einen besonders niederdrückenden Gegensatz zu seiner Untat, sondern in
der wohltuenden Gegenwart dieser Schwester fühlt er neue Hoffnung, die sein Schuld-
gefühl ablöst. Nach Korff wirkt Iphigenie auf den Bruder — ich halte mich mög-
 
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