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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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Wind, Edgar: Theios phobos: Untersuchungen über die Platonische Kunstphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0364
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EDGAR WIND.

— gerade das will uns unser historisches Wissen zunächst nicht recht
lehren. Im Gegenteil: je untrüglicher wir aus der Überlieferung er-
fahren, daß der Drang zu dramatisch-mimischer Darstellung in Piaton
der begrifflichen Überlegung voranging und durch diese abgelöst wurde,
je deutlicher wir aus seinen eigenen Schriften erkennen, wie schwer ihm
selbst die Entscheidung wurde, wie sehr er den Zauber Homers preist,
bevor er sich zu seiner Bekämpfung entschließt, ja, je stärker wir am
Stil seiner frühen und mittleren Dialoge jene Kraft der Schmiegsam-
keit empfinden, deren Gefahren er selbst so eindringlich schildert, —
desto mehr will uns der Gedanke, daß dieser künstlerisch veranlagte
und tätige Mann sich gegen die Kunst gewandt habe, als ein Kuriosum
erscheinen. Und die Verwunderung wird noch verstärkt, wenn man uns
zur Erklärung auf die Zwangsläufigkeit der platonischen Deduktionen
verweist, auf jene Stelle im zehnten Buche des Staates, wo aus der
Gegenüberstellung von Idee und Erscheinung gefolgert wird, daß die
Kunst, sofern sie die Erscheinung nachahmt, als Abbild eines Abbildes
an dritter Stelle von der Wahrheit entfernt sein müsse. Wie? Piaton,
dessen Schriften jedem Versuch, ein System aus ihnen herauszulesen,
widerstanden haben, weil die Beweisführung selbst dort, wo sie sich
didaktisch zuspitzt, in der Schwebe zwischen Wissen und Nichtwissen
gehalten wird, — Piaton sollte einem Argument zuliebe, dessen logische
Fragwürdigkeit man in späterer Zeit mit spielender Gewandtheit glaubte
aufweisen zu können, so tief in das Leben seines Volks haben eingreifen
wollen? Am allerunverständlichsten aber wird es, wenn dieser Paradoxie
aus einer angenommenen „Vernunft der Geschichte" heraus ein recht-
mäßiger Ort zugewiesen wird: als hätte Piaton in seiner mythisch be-
fangenen Denkweise zwischen dem Künstlerischen und dem Moralischen
„noch nicht" unterscheiden können; als sei es seine Bestimmung
gewesen, ein Problem nur aufzuwerfen, dessen begriffliche Lösung
späteren Generationen vorbehalten blieb. Dann freilich hätte der histo-
rische Sinn sich selbst das Urteil gesprochen; denn dies hieße, daß wir
das Problem, das von Piaton gestellt wurde, ihm aus den Händen
nehmen, daß wir in eine denktechnische Frage verwandeln sollen, was
für ihn eine lebenswichtige Entscheidung war. Haben wir erst einmal
auf diese Weise den Sinn seiner Forderung intellektuell verflüchtigt,
so haben wir kaum noch das Recht, verachtend auf den historisch Un-
geschulten herabzublicken, der das Problem pragmatisch vergröbert
hatte. Die Kurzsichtigkeit des naiven Mannes, der Piaton verwünscht,
als wäre er ein Zeitgenosse, ist doch wohl kaum bedenklicher als die
Weitsichtigkeit des Gelehrten, der gerade diejenige Entscheidung, auf
die es Piaton ankommt, auf die lange Bank der Geschichte schiebt.
 
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