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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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Gesellschaft für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0410
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BERICHT OBER DIE VERANSTALTUNGEN 1931/32.

Dichtung- ist größer, die die tiefere Wahrheit umschließt; auch sie enthält und
vermittelt Wahrheit, aber anders als die Philosophie. Diese sucht Wahrheit zu
bestimmen, begrifflich zu bestimmen. Das echt philosophische Bestimmen erlebt bei
Plato seine ersten Triumphe und seine ersten Katastrophen. Unerbittliches Wei-
terfragen führt zur Erkenntnis des Nichts-Wissens; aber alle haben die Wahrheit
besessen, haben eine Beziehung zur Sache, ohne sie jedoch bestimmen zu können.
Die Sprache erleidet in dieser philosophischen Untersuchung eine merkwürdige Ver-
änderung: sie verliert die Unbestimmtheit, die innere Beweglichkeit,' den inneren
Reichtum. Er wird durch äußeren Reichtum an Bestimmungen ersetzt. Das Wort
wird zum Terminus. Anders in der Dichtung: innerer Reichtum der Sprache be-
deutet hier Konkretheit des Lebens. Die Sprache ist hier nicht bloß Medium, son-
dern eine Weise, in der das Spiel des Lebens sich vollzieht und kundtut. Alles
Menschenleben hat ein besonderes Verhältnis zur Wahrheit, weil zur Welt und
zu sich selbst; und alles in der Dichtung repräsentierte Leben ist Leben, weil es
Fühlung hat mit dieser Wahrheit. Daraus scheint zu folgen: daß Dichtung eine
intensivere Fühlung mit den letzten Dingen vermittelt, als Philosophie, und daß
sie allgemeiner zugänglich ist. Bei näherem Zusehen bestätigt sich das nicht. Das,
worauf es ankommt, liegt in der Dichtung erst hinter dem Dargestellten. Und
wenn Dichtung tiefste Wahrheit enthält, so ist sie doch nicht imstande, sie uns
fürs Leben zu vermitteln. Das aber kann die Philosophie. Wer durch eine Philo-
sophie hindurchgeht, ist fürs ganze Leben sichtbar verwandelt. Die Frage, wie
wir beteiligt sind an Dichtung und Philosophie, ergibt: in der Philosophie ist
das erste tiefe Ratlosigkeit; wir werden zurückgeworfen auf unsere eigenen Er-
fahrungen und gezwungen zu lebendiger Auseinandersetzung. Die Dichtung da-
gegen verlangt Ausschaltung der eigenen Erfahrung durch Vergessen, nicht nur
durch Interesselosigkeit. Wir nehmen nicht teil an der Welt des Dichters, sondern
sind in sie hinein entrückt. In der Aussprache wirft Professor Nicolai Hartmann
die Frage auf, ob der gezeigte Unterschied zwischen unserem Verhalten in Dich-
tung und Philosophie nicht auf dasselbe hinauslief? ob mit Ausschaltung des
eigenen Erlebens in der Dichtung auch das Anderswerden ausgeschaltet ist? und
ob das Zurückfallen aus der Entrückung den ganzen Unterschied bildet? Profes-
sor Dessoir findet die Aporie weniger störend bei Einschaltung des vom Vortra-
genden vertretenen wertvollen Gedankens, daß wir mit unsern eigenen Erfahrun-
gen die Philosophie nähren müssen, während die Dichtung uns nötigt davon ab-
zusehen. Dies bekräftigend betont Dr. Springmeyer nochmals, daß die Philosophie
im Berühren den Menschen mit ins Spiel bringt, während umgekehrt alles, was
ich von mir selbst hinzubringe, mir das Verständnis der Dichtung verschließt.
Dr. Marcus wirft die Frage auf, ob nicht eine Stufung der Wahrheit vorliege, und
ob nicht in der Philosophie objektive, in der Dichtung empirische Wahrheit vor-
handen sei? Privatdozent Dr. Kuhn ist der Meinung, daß der Gegensatz zum
Nachteil der Dichtung überschärft und daß das für sie Gesagte nur heutigen
Tages gültig ist. Dr. Katharina Heufelder fragt, ob Wahrheit als Übereinstim-
mung mit dem Empirisch-Wirklichen gemeint und ob dieser Begriff an die Dich-
tung heranzutragen ist? ob nicht vielmehr das Phänomen der innerästhetischen
Geltung in der Illusionswirklichkeit ein Neues sei? Dr. Springmeyer weist den
fragwürdigen Begriff der Übereinstimmung und diese Definition der Wahrheit als
mit seiner eigenen Meinung unverträglich zurück; er hat an Wahrheit fürs Le-
ben gedacht, an das „in einer Situation wissen, woran man ist". Fräulein Erd-
mann macht darauf aufmerksam, daß in der Dichtung selbst ein fundamentaler
Unterschied in der Behandlung der Sprache liege; denn einmal ist das Wort
Selbstzweck, andererseits aber wird die Sprache auch hier zur Entwicklung von
 
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