KERNFRAGEN DER KINDERKUNST.
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der Forscher und demzufolge auch ihre Deutungen und Grundbegriffe
erheblich auseinandergehen, hat freilich auch seinen äußeren Grund —
in ihrer Zugehörigkeit zu vier verschiedenen Nationen —, den ungleich
bedeutsameren inneren aber in dem verschiedenen theoretischen Aus-
gangspunkt und ihrer verschiedenen psychologischen, ästhetischen oder
kunstpädagogischen Einstellung zu den Fragen der Kinderkunst. Bevor
wir in die eigentliche Erörterung eintreten, sei daher der Standpunkt und
die Betrachtungsweise eines jeden in Kürze gekennzeichnet.
Der französische Forscher G. H. Luquet, Professor der Philosophie
am Lycee Rollin in Paris, gibt in seinem 1927 erschienenen Buch eine
erweiterte Neubearbeitung einer früheren Untersuchung aus dem Jahre
1913, die sich auf die Kinderzeichnung beschränkt. Sein eignes Beob-
achtungsfeld erstreckt sich nicht weit über den engsten Lebenskreis, der
ihm allerdings sehr wertvolle Belege der kindertümlichen Gestaltung bot,
wird aber durch die Kenntnis aller Hauptwerke der früheren Forschung
ergänzt. Die Gesichtspunkte Luquets sind rein psychologische, auf die
allgemeine Strukturbildung des geistigen Lebens gerichtete, wie er sie
auch auf einem anderen, besonders von ihm gepflegten Gebiet der primi-
tiven Kunst, dem prähistorischen der älteren Steinzeit, anwendet. Doch
zieht er hier keine Parallelen, sondern stellt eine weitere vergleichende
Betrachtung für später in Aussicht. In dem Schlußkapitel (conclusions
psychologiques), das den Ertrag der vorliegenden Arbeit zusammenfaßt,
werden die Ergebnisse auf einige wenige abstrakte Allgemeinbegriffe
gebracht. Es wird die Rolle der synthetischen Vorstellungsbildung, die
Bedeutung der Assoziation, der Priorität der anschaulichen Abstraktion
(generalisation) in den Typen vor der Auffassung individueller Tat-
bestände innerhalb der kindlichen Vorstellungsweise festgestellt. Diese
wird freilich mehr durch negative Bestimmungen von derjenigen des Er-
wachsenen unterschieden, als durch intuitives Eindringen geklärt. Dazu
fehlt es dem Verfasser an ausreichender Beherrschung der Sinnes-
Psychologie. So liegt der Wert seiner Untersuchung mehr in der präzisen
Fragestellung des I. Teils, in dem die Tatsachen gesichtet werden, als in
ihrer Beantwortung im IL, der die Entwicklung begrifflich zu deuten
sucht. Auf eine ästhetische Bewertung der Kinderkunst läßt der fran-
zösische Psychologe sich so wenig ein wie auf kunstpädagogische
Folgerung.
Im vollen Gegensatz dazu steht die Arbeit des bekannten deutschen
Kunstforschers G. F. Hartlaub, ebenfalls eine umgearbeitete neue Aus-
gabe seines ersten, s. Z. in dieser Zeitschrift (1924, XVIII, S. 119 ff.) von
mir besprochenen Buches. Dieses war aus der verdienstvollen Veranstal-
tung der großen Kinderkunstausstellung in der Mannheimer Kunsthalle
im Jahre 1922 hervorgegangen. Seither hat Hartlaub ihr in dieser eine
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der Forscher und demzufolge auch ihre Deutungen und Grundbegriffe
erheblich auseinandergehen, hat freilich auch seinen äußeren Grund —
in ihrer Zugehörigkeit zu vier verschiedenen Nationen —, den ungleich
bedeutsameren inneren aber in dem verschiedenen theoretischen Aus-
gangspunkt und ihrer verschiedenen psychologischen, ästhetischen oder
kunstpädagogischen Einstellung zu den Fragen der Kinderkunst. Bevor
wir in die eigentliche Erörterung eintreten, sei daher der Standpunkt und
die Betrachtungsweise eines jeden in Kürze gekennzeichnet.
Der französische Forscher G. H. Luquet, Professor der Philosophie
am Lycee Rollin in Paris, gibt in seinem 1927 erschienenen Buch eine
erweiterte Neubearbeitung einer früheren Untersuchung aus dem Jahre
1913, die sich auf die Kinderzeichnung beschränkt. Sein eignes Beob-
achtungsfeld erstreckt sich nicht weit über den engsten Lebenskreis, der
ihm allerdings sehr wertvolle Belege der kindertümlichen Gestaltung bot,
wird aber durch die Kenntnis aller Hauptwerke der früheren Forschung
ergänzt. Die Gesichtspunkte Luquets sind rein psychologische, auf die
allgemeine Strukturbildung des geistigen Lebens gerichtete, wie er sie
auch auf einem anderen, besonders von ihm gepflegten Gebiet der primi-
tiven Kunst, dem prähistorischen der älteren Steinzeit, anwendet. Doch
zieht er hier keine Parallelen, sondern stellt eine weitere vergleichende
Betrachtung für später in Aussicht. In dem Schlußkapitel (conclusions
psychologiques), das den Ertrag der vorliegenden Arbeit zusammenfaßt,
werden die Ergebnisse auf einige wenige abstrakte Allgemeinbegriffe
gebracht. Es wird die Rolle der synthetischen Vorstellungsbildung, die
Bedeutung der Assoziation, der Priorität der anschaulichen Abstraktion
(generalisation) in den Typen vor der Auffassung individueller Tat-
bestände innerhalb der kindlichen Vorstellungsweise festgestellt. Diese
wird freilich mehr durch negative Bestimmungen von derjenigen des Er-
wachsenen unterschieden, als durch intuitives Eindringen geklärt. Dazu
fehlt es dem Verfasser an ausreichender Beherrschung der Sinnes-
Psychologie. So liegt der Wert seiner Untersuchung mehr in der präzisen
Fragestellung des I. Teils, in dem die Tatsachen gesichtet werden, als in
ihrer Beantwortung im IL, der die Entwicklung begrifflich zu deuten
sucht. Auf eine ästhetische Bewertung der Kinderkunst läßt der fran-
zösische Psychologe sich so wenig ein wie auf kunstpädagogische
Folgerung.
Im vollen Gegensatz dazu steht die Arbeit des bekannten deutschen
Kunstforschers G. F. Hartlaub, ebenfalls eine umgearbeitete neue Aus-
gabe seines ersten, s. Z. in dieser Zeitschrift (1924, XVIII, S. 119 ff.) von
mir besprochenen Buches. Dieses war aus der verdienstvollen Veranstal-
tung der großen Kinderkunstausstellung in der Mannheimer Kunsthalle
im Jahre 1922 hervorgegangen. Seither hat Hartlaub ihr in dieser eine