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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

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Riemschneider-Hoerner, Margarete: Holbein, Erasmus und der frühe Manierismus des XVI. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0042

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MARGARETE RIEMSCHNEIDER-HOERNER

wirrung und Schmerzen bereitet. Dann aber, wie beim Anbrechen des
ersten Morgenlichtes nach dunkler Nacht, stehen wir überrascht vor einer
keinem anderen Stil in dem Maße innewohnenden Gewalt der Beglückung
und des Erlöstseins, Beglückung durch eine Weltanschauung, die —
rätselhaft und geschichtlich widersinnig — von allen Weltanschauungen
allein stets als die absolute, gültige und nunmehr ewige empfunden wird.
Tragisch in sich, daß gerade dieser kurzlebigste aller Stile so sehr diesem
Wunsch nach Verewigung verhaftet ist und ihn über ferne und fernste
Zeiten mit sich schleppt, ohne zu begreifen, wie hohl und oberflächlich
sein Dasein in einer rücksichtslos dahinschreitenden Welt allmählich wer-
den muß, daß ihm — zur Karikatur seiner selbst geworden — nichts
bleibt als wieder Sehnsucht zu werden und der neuerlichen Erfüllung zu
harren. Ist doch gerade das Vollkommene — oder besser gesagt: das sich
seiner Vollkommenheit Bewußte — sein eigener Richter vor der Geschichte,
die zwar Ziele und Erfüllung, aber niemals ein Ziel und eine Erfül-
lung kennt.

Das Gefühl des Festhaltens und Nicht-wieder-loslassen-Wollens er-
klärt nun jene sonderbare Erscheinung in der Geschichte der Kunst, daß
stets auf die schon leicht gebrochene, in ihrem Gefüge gelockerte Klassik
ein hartnäckig spröder oder weichlich süßer Klassizismus folgt, der —
schon mit allen Kennzeichen eines echten Manierismus1) ausgestattet —
dennoch als klassisch gelten will und auch als solcher in die Jahrhunderte
eingeht. Ihm gehört der breite Raum in unseren Lehrbüchern und Stil-
betrachtungen, ihm gehört aber auch das Herz der großen Menge, die
naturgemäß stets das Faßliche und Abgezogene dem Echten und Strengen
vorzuziehen geneigt sein wird.

Ehe wir aber zu unserem Ausgangspunkt, zu Holbein und Erasmus
zurückkehren können, müssen wir uns fragen: was ist eigentlich klassisch?

Über den Begriff des Klassischen ist viel geschrieben und gedacht wor-
den. Klassisch aber — wenn wir von den Stilbegriffen linear, plastisch
usw. absehen — ist identisch mit dem Werturteil des Gültigen, Vollendeten
schlechthin. Am willigsten heftet sich deshalb der Begriff an Zeiten und
Persönlichkeiten, deren Gültigkeit und Vollendung mit der durch den Stil
bedingten Ruhe und Geschlossenheit zusammenfällt: Rafael etwa, Goethe,
die römischen Schriftsteller des ersten Jahrhunderts, der Parthenon und
— vielleicht auch einmal — der Naumburger Dom. Die meisten Vertreter
andersgearteter Stile aber nennt man selten klassisch. Rodin ebensowenig
wie Cervantes, Rembrandt nicht und kaum eine Pietä des 14. Jahrhunderts.

Aber was ist nun klassisch? Klassisch ist — wie wir sahen — alles
Gültige und Vollendete, aber göttliche, leichte, schaumgeborene Voll-

x) M. Hoerner, Der Manierismus als künstlerische Anschauungsform. Zeitschrift
für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft XXII, 1928.
 
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