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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

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Riemschneider-Hoerner, Margarete: Holbein, Erasmus und der frühe Manierismus des XVI. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0054

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MARGARETE RIEMSCHNEIDER-HOERNER

schönen, stillen, gefühlvollen Kunst, ein Gegensatz, der als solcher bewußt
und betont blieb. Nun aber ein Mensch wie Erasmus, in Wesen und Wer-
ken gleich: fein, sauber, verletzlich, ebenso indigniert über ein schlechtes
Essen wie über eine blutige Tat, unter Krankheit und Schmutz genau so
leidend wie unter Torheit und Brutalität.

Erasmus und Holbein sind in ihrer Wesensart mit ihrer ganzen Zeit
nur eine Möglichkeit unter vielen, wie die Klassik sich im Manierismus
zu einem kaum merklichen Klassizismus erweichen kann. Der eigentliche
Manierismus — gerade im 16. Jahrhundert bestimmt, in leidenschaftlicher
Ekstase den Barock als zugehöriges Finale heranschwellen zu lassen —
hat kaum noch Ähnlichkeit mit dieser frühen, gemäßigten, ein wenig
frostigen Form. Und so ist es fast eine Ironie des Schicksals, daß, wäh-
rend Grünewald uns verloren ging, Dürer aber den Gelehrten stets einige
Unbequemlichkeiten bereitete, das Bild Holbeins ungetrübt die Jahrhun-
derte überdauert und sei es auch nur die Solothurner Madonna, die in
idealer Konkurrenz mit der Sixtina und dem Abendmahl unsere Kindheit
durch webt. Warum aber verlassen wir sie jetzt? Wohl nur aus dem ein-
zigen Grund, weil wir an dem seltenen, schicksalhaften Wendepunkt
stehen, eine wirkliche, echte, leidenschaftlich erstrebte Klassik ersehnen
und erhoffen zu dürfen. Werden aber danach oder mitgerissen im Strom
auch diese Idole sich wieder aufrichten dürfen? Wir wissen es nicht.
Eines aber wissen wir: daß wir der Tragik der Geschichte nicht entgehen
werden. Wir werden einen neuen Holbein und einen neuen Erasmus —
und es sind dies noch die glücklichsten Möglichkeiten — erneut über die
Jahrhunderte hinwegtragen, gleichsam hinausgeschmuggelt aus dem ver-
lorenen Paradies. Welche Zeit und welches Land wird auch den Mut
haben, den Glauben an sich selbst im Moment der Erfüllung freiwillig
aufzugeben und das Zepter an die Zukunft weiterzureichen? Nur jene
Zeiten, die den Erfüllungsgedanken nicht kennen, die an dem Punkt ihrer
letzten und tiefsten Entäußerung angelangt vor sich selbst stets am An-
fang oder doch mitten im Ringen zu stehen glauben, sie erwarten von dem
Danach das Heil und sind doch meist Generationen um Generationen
verstrickt in ruhelosen Gärungsprozessen. Wir werden es nie ganz be-
greifen und doch stets neu erfahren, daß die erstrebten Ideale uns nur
kurz beglücken, daß die gemiedenen uns lange hindurch zur Pflicht und
Aufgabe werden. Rembrandt endete kaum anders, nur tiefer und schmerz-
licher als er begann, an sich selbst verzagend, das kurze und glückliche
Dasein eines Rafael war dagegen fast schon zu lang, um nur eine Blüte
zu tragen. Barocke Zeiten sind — nicht nur für uns, sondern schon für
die ganze Antike! — ein oft qualvoller, nie endender Kampf, klassische
sind das Geschenk eines Augenblickes.
 
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