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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

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Escherich, Mela: Der " Blick" in der mittelalterlichen Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0056

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Betrachten wir, gleichsam als Schulbeispiel, ein Meisterwerk der
Miniaturkunst des 11. Jahrhunderts, die „Verkündigung an die Hirten"
aus dem Perikopenbuch Heinrich II. (München, Staatsbibl.)! In der Bild-
mitte steht auf der Spitze eines bewaldeten Berges der Verkündigungs-
engel. Etwas tiefer sitzen links zwei Hirten und ein Hirte rechts ist bereits
im Begriff, dem Engel zu folgen. Die vier Gestalten sind in ein Dreieck
hineinkomponiert, in dessen obere Spitze der Engel hineinragt. Dieses
Dreieck ist sichtbar gegeben durch die Blicklinien. Von links und rechts
laufen die Blicke der Hirten empor und treffen sich in den Augen des
Engels, welcher auf den stehenden Hirten herabschaut. Und dieser Blick
des Engels, welcher sich mit unerhörter Eindringlichkeit in den des stark
davon betroffenen Hirten senkt, ist der eigentliche Inhalt der Darstellung:
der Weckruf des Göttlichen! Und zugleich ist er im konstruktiven Sinne
der Schlüssel des Bildes.

Der ganze Rhythmus der in allen Teilen wundervoll empfundnen
Darstellung, die Ruhe des Waldgebirges, das weidende Vieh, das Auf-
horchen der Hirten, spannt sich in die paar Linien, in denen sich das
mystische Ereignis vollzieht und der stillen Stunde das Erlebnis gibt.

Diese auf die Blicklinie gestellte Konstruktion ist der herrschende Typ
der Malerei des 11. und 12. Jahrhunderts. Die Künstler jener Zeit hatten
ein ausgesprochenes Gefühl für die Fläche. Sie sahen in ihr (Wand oder
Papier) das Grundmaterial, das vor allem betont und nie verschwiegen
werden durfte. In diesem strengen System der Zweidimensionalität ent-
wickelte sich die Darstellung zu einem Spiel von Spannungen, welche in
der Fläche von einem Rand zum andern laufen. Und diese Spannungen
wurden, in der doppelten Aufgabe der technischen und seelischen Lösung,
durch die Blicklinie geregelt.

Ein Blick oder die Begegnung von zwei Blicken, welche sich die
Waage halten, stehen im Brennpunkt des Motivs und oft werden dann in
Gegenwirkung anders laufende Linien gebracht. Hiezu dient der Auf-
marsch von Massen. In mehreren Reihen übereinander erscheint Kopf an
Kopf und sämtliche Blicke laufen in einer Richtung, hiemit strenge Hori-
zontalen bildend. So sehen wir es auf der „Verehrung des Lammes" in
der Bamberger Apokalypse und zahlreichen andern Darstellungen.

Bei Gruppen unterschiedlich charakterisierter Figuren entwickelt sich
das Augenspiel zu fesselnder Dramatik. So z. B. auf dem „Lazarus" des
Goldenen Evangelienbuches Heinrich III., wo das Gastmahl des Reichen
nebst dem Armen vor der Tür in eine ungemein lebendige Szene zusam-
mengefaßt ist, in der wir die Stimmen der Einzelnen zu hören glauben.
In der Mitte steht der Herr des Hauses, welcher als solcher durch die
Blicklinie der drei zu ihm aufschauenden Tischgenossen charakterisiert
wird. Sein Blick senkt sich befehlend auf den von rechts hereintretenden
 
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