Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

DOI Artikel:
Hackel, Alexej A.: Das russische Italienerlebnis im 19. Jahrhundert
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0241

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DAS RUSSISCHE ITALIENERLEBNIS IM 19. JAHRHUNDERT 227

Man kann wohl die Italienreise des Flü^eladjutanten des Zaren
Nikolaus I., des nachmaligen Grafen Perowskij, als typisch für das
Herrenleben russischer „Grandseigneurs" jener Zeit bezeichnen. Das
italienische Tagebuch des jungen Grafen Alexej Tolstoj, der in Be-
gleitung seines Onkels Perowskij die Reise machte, gibt uns reichlich
Aufschluß über den Zeitvertreib der russischen Aristokraten in Venedig,
Florenz, Rom und Neapel. „Das in Schönheit sterbende Venedig", wo
verarmte venezianische Vornehme ihre einzigartigen Kunstschätze an
die reichen Forestieri verkaufen, ruft in den Russen „ein gemischtes
Gefühl von Ehrfurcht, Entzücken, Mitleid und Habsucht"40) hervor.

Hier erwarb Perowski von Grimani den „Faun", der damals noch
unbestritten als ein echter Michelangelo galt und der auf den jungen
Tolstoj einen unauslöschlichen Eindruck machte. In verschwenderischer
Aufmachung wurden Feste gefeiert, in fürstlichem Aufzuge machte
man in den verschiedenen Städten bei den Gesandten italienischer und
auswärtiger Mächte Besuche, empfing Antiquitätenhändler und Maler,
bei denen man Porträts und Veduten bestellte. Für Alexej Tolstoj be-
deutete diese Reise „sein 16. Jahrhundert". Der zukünftige Dichter lebte
vollkommen „im Zeitalter der A4edici"41).

Tolstojs Italienerlebnis war rein ästhetischer Natur. Zehn Jahre vor
ihm empfing ein anderer hervorragender Russe, Peter Tschaadaew,
in Rom jene entscheidenden Eindrücke, die er später in seinen berühmten
„Philosophischen Briefen" zu einer großangelegten Geschichtsphiloso-
phie verarbeitete42). Hier ging ihm die Geschlossenheit der abendländi-
schen Kultur auf, „die alles bezwingende einheitliche Weltanschauung
der katholischen Kirche, die das Leben der Menschen zum Teil einer

40) A. Lirondelle, Le poete Alexis Tolstoi. Paris 1912. Kap. 1. Vgl. auch „Tage-
buch des jungen Tolstoi" in Ges. Werke, Bd. I, S. 3 ff.

41) S. Briefe des Grafen Tolstoj aus den Jahren 1853, 1866 an seine Frau und
aus dem Jahre 1869 an die Fürstin Sayn-Wittgenstein, im Bd. IV der Ges. Werke.
Petersburg 1908. — Über das Italienerleben russischer Aristokraten vgl. die auf-
schlußreichen „Aufzeichnungen" des Grafen M. Buturlin in der Zeitschrift „Russkij
Archiv", 1897 (IV—XI), 1898 und 1901, in denen das „russische" Florenz in den
Jahren 1817—1824 geschildert wird. — Vgl. auch M. Gerschenson, Der Dezembrist
Kriwzow und sein Bruder. Moskau 1912.

42) Die Literatur über Tschaadaew ist umfangreich. An erster Stelle muß hier
das Werk M. Gerschensons genannt werden. — M. Gerschenson, P. J. Tschaadaew,
Leben und Denken. Petersburg 1908. — Derselbe, Werke und Briefe Tschaadaews.
Moskau 1913 und 1914. — M. Winkler, P. J. Tschaadaew. Berlin 1927. — Derselbe,
Schriften und Briefe von Tschaadaew, deutsch, hrsg. von E. Hurwitsch. München
1921. — E. Hurwitsch, Tschaadaew, in den Preußischen Jahrbüchern, August 1920.
— A. Koyre, La philosophie et le probleme national en Russie au debut du XIX.
siecle. Paris 1929. — Ch. Quenet, Tschaadaew et les lettres philosophiques. Paris
1931. Bibl. de lTnt. francais de Litt., t. XII.
 
Annotationen