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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

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Müller-Freienfels, Richard: Kunsterkenntnis und Kunstverständnis, [2]
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286

RICHARD MÜLLER-FREIENFELS

Dabei lehnen wir zunächst eine auch heute noch verbreitete Meinung,
die von der konszientialistischen Psychologie vertreten wurde, eingangs
als falsch ab. Wie man alles erkennende und verstehende Seelenleben
fälschlich als „B e w u ß t s e i n" bezeichnete, so sollte auch das „Ver-
stehen" auf das fremde „Bewußtsein" abzielen. Das aber ist un-
richtig, weil viel zu eng! Es kann zwar zugegeben werden, daß, wie im
Verstehen als subjektivem Akte auch Bewußtsein m i t spielt, so auch das
zu verstehende Seelenleben bewußt sein kann; doch ist zumeist das
fremde Bewußtsein nicht das, was verstanden werden soll, ja man kann
Tatbestände verstehen, die nicht bewußt sind, und alles tiefere Ver-
stehen anderer Menschen dringt über deren Bewußtsein hinaus!

Das gilt sogar schon von Akten, die man obenhin als „bewußt" an-
zusprechen pflegt. Wenn wir die Sprache eines anderen verstehen, so
meinen wir wohl, das was er sage, sei ihm voll bewußt; aber schon das
ist oft eine falsche Annahme. Es ist oft sehr schwer auszumachen, wie-
weit die Worte oder Sätze, die der andere spricht, ihm voll bewußt sind.
Wenn jemand zu mir „Guten Morgen!" sagt, so ist ihm in der Regel gar
nicht bewußt, daß er mir einen „Guten Morgen" wünscht. Es kann sogar
sein, daß ich seinen Worten an der kühlen Art, wie sie gesprochen wer-
den, anmerke, daß der andere recht wenig erfreut ist, mich zu sehen,
vielleicht auch, ohne daß ihm das selbst klar zum Bewußtsein kommt.
Art und Grad der „Bewußtheit" sind für das Verstehen oft ganz irre-
levant. Und vollends wenn ich aus den Worten des andern heraushöre,
was für ein Charakter oder „wes Geistes Kind" er ist, so verstehe ich
damit etwas, was dem anderen nicht bewußt ist. So kann man ein Kunst-
werk verstehen, ohne im geringsten auf das Bewußtsein des Schöpfers
zu rekurrieren, zumal man auch annimmt, daß gerade der geniale
Künstler nicht bloß aus seinem Bewußtsein gestaltet. Und in den mei-
sten Fällen würde es das unbefangene ästhetische Erleben eines Kunst-
werks geradezu zerstören, wenn wir alle Überlegungen, Berechnungen,
Stimmungen, die der Künstler während der Arbeit erlebte, erfassen
könnten.

Nicht also das „Bewußtsein" ist der Gegenstand des Verstehens,
sondern auch dort, wo wir das Bewußtsein des anderen verstehen, ver-
stehen wir es doch zugleich als Teilbestand eines weit komplexeren Ver-
haltens, das auch unbewußte Tatbestände mitumgreift, biologische und
soziologische. Wir wählen also eine umfassendere Bezeichnung und
sagen, das Verstehen zielt zunächst auf die Seele des andern, es ist
„Seel verstehen"1).

Zur Gegenüberstellung- von „Seelverstehen" und „Geistverstehen" vgl. S o m-
bart: Die drei Nationalökonomien. 1929. S. 192ff. — Neuerdings auch sein Werk
„Vom Menschen". 1939.
 
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