Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für christliche Kunst — 19.1906

DOI Artikel:
Groner, Anton: Zur Entstehungsgeschichte der Sixtinischen Wandfresken, [2]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4095#0135

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
195

1906. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 7.

196

Erklärung des Wand-Historienzyklus.

Der Bilderkreis zeigt in der Gegenüberstellung
des Moses- und des Messiaslebens die Gründung des
alt- und des neutestamentlichen Gottesreichs (Synagoge
und Kirche) und die Einsetzung ihrer Hierarchie.
Quelle für den Theologen bei der Auswahl der
Themata und für die Künstler bei der Ausführung
war nicht in erster Linie die Hl. Schrift, sondern
(wie eine ganze Reihe von Einzelheiten beweist) die
Historia scholastica des Petrus Comestor (bei Migne,
PL 198), die sich als biblisches Lehrbuch gleich den
Sentenzen des Lombarden vom XII. bis ins XVI. Jahrh.
in der Hand des Theologen befand. Die erste Hislo-
riengruppe (3 Paare) befaßt sich mit Moses und
Jesus bis zum Antritt ihrer heilsgeschichtlichen Mission.
Geburt Christi und Auffindung Mosis fielen dem
Jüngsten Gericht Michelangelos zum Opfer. Im ersten
erhaltenen Paar stehen sich symmetrisch gegenüber:
Jesus und der taufende Johannes, Moses und der ihn
mit gezücktem Schwert bedrohende Engel (nach
Comestor, Sp. 1147; nach Ex. 4,24 Gott), das Gefolge
Mosis und die Beschneidungsszene hier, 2 Gruppen
Zuschauer in der Taufe. Im Hintergrund entsprechen
sich die Begegnung Mosis und Aarons am „Berge
Gottes" (Ex. 4,27 ff.) und die 2 Predigtszenen (des
Täufers und Christi) auf beiden Talseiten. Von der
Beschneidungsgruppe weg gehen 2 Frauen nach dem
Hintergrund, Zippora mit einer Begleiterin, die nach
Comestors irriger Auffassung von Ex. 4,26 den Moses
verläßt, d. h. wieder heimkehrt. Moses und Jesus
anerkennen in diesem Freskenpaar auf Gottes Antrieb
die auf die nahen Heilsveranstaltungen vorbereitende,
von Gott angeordnete Zeremonie. Nach Comestor
(Sp. 1554) war der erste Grund für die Taufe Christi,
die Johannestaufe anzuerkennen. In den Hintergrund-
szenen werden Aaron, der „Mund Mosis vor seinem
Volk und vor dem Pharao", und Johannes, die,.Stimme
des Rufenden in der Wüste", miteinander verglichen.
Der Gedanke der beiden Predigtszenen ist derselbe
wie in einigen „Predigten Johannis" (Ghirlandajo,
Andrea del Sarto), wo Jesus ganz einsam hinter dem
Prediger auf einem höheren Hügel steht.

In den 2 Wüstenbildern (Abb. 1 und 2) ent-
sprechen den 3 Versuchungen Jesu die 3 Darstellungen
Mosis im Hintergrund: Moses flieht, löst bei seiner
Herde auf Gottes Befehl seine Sandalen, vernimmt
am brennenden Dornbusch seine Berufung. In dem
Berg, auf welchem Jesus hungert, erblicken wir nach
Comestor (Sp. 1556) den Quarantana, in dem über
den Felsen herabrieselnden Bächlein den „rivulus
quem sanavit Elisaeus", in der Stadt im Hintergrund
das 2 Meilen entfernte Jericho. Im Hintergrund
rechts gewährt Botticelli dem Beschauer einen Aus-
blick auf die Herrlichkeiten und Königreiche, welche
Satan vom Berge aus Jesus zeigt: eine Stadt, Berge,
einen von Schiffen belebten See oder Fluß. Im Vorder-
grund korrespondieren: das Reinigungsopfer des Aus-
sätzigen (Lev. 14,2 ff.) vor der Tempelzinne —Jesus soll
sich hier herabstürzen, d. h. den unten Stehenden ein bloß
der Schaulust dienendes Wunder zum Besten geben (ut
jactanter se ostenderet filium Dei,Comestor,Sp. 1556) —
und die Brunnenszene (Moses vertreibt die rücksichtslosen
Hirten und tränkt den Töchtern Jethros ihre Schafe,
Ex. 2,15 ff.), ferner der von 2 sich raufenden Hebräern

beobachtete Totschlag des ägyptischen Fronvogts und
der Streit der 3 Jünglinge an der Bank, endlich die
Rückkehr Mosis (mit Familie und Dienerschaft) nach
Ägypten und eine Gruppe, vor welcher (dem Moses
genau gegenüber) eine Porträtgestalt mit einem Stabe
steht (hinter ihm wohl das Selbstbildnis Botticellis).
Es ist der Nepote Girolamo Riario, der sich hier
in seiner ihm 1480 übertragenen Würde als Gon-
faloniere der Kirche (mit Feldherrnstab) dem großen
Führer Israels gleichstellen ließ. Vor ihm mußte der
mit seiner Dienerschaft (den Engeln, die ihn nach
der 3. Versuchung bedient hatten) aus der Wüste
zurückkehrende Jesus in den Mittelgrund weichen,
wo er von links her auf das (an sich schon symbolische)
Reinigungsopfer zuschreitet. Die bedeutungsvolle
Gruppe soll dem Beschauer sagen: „Siehe, da kommt
das Gotteslamm, das auf sich nimmt die Sünden der
Welt." Christus und Moses ziehen nach ihrer 40tägigen
bezw. 40jährigen Vorbereitung in der Wüste aus,
Israel und die Menschheit herauszuführen aus dem
Land der Knechtschaft in das ersehnteVerheißungsland.

Die 2. Gruppe beginnt mit der Berufung der ersten
Jünger und des „Erstgeborenen Gottes" (des israeliti-
schen Volkes). Man beachte die ganz überein-
stimmende Anlage des Sees Genesareth und des Roten
Meeres mit den beiderseits ansteigenden Bergen.
Christus und den beiden knieenden Jüngern ent-
sprechen Moses und seine knieenden Geschwister
(Maria und Aaron); dem in den Fluten untergehenden
Heer und den wenigen Israeliten, die noch am Ufer
der Katastrophe zusehen, 2 Gruppen heilsbegieriger
Besucher des neuen Propheten; im Hintergrund den
beratenden Ägyptern und den ins Gebirge abziehen-
den Israeliten die beiden Berufungen der Jünger aus
ihren Kähnen; der ägyplischen Stadt die Feste am
See Genesareth, den Nachen der Jünger und den
anderen Fahrzeugen die im Roten Meer schwimmen-
den Schiffe. Die Regenfluten im Auszugsbild, die
Steinmann auf die Sumpfschlacht von Campo Morto
deutete, gehen auf Comestor zurück, der zu Ex. 14,24
(„Der Herr sah auf die Ägypter aus der Wolken- und
Feuersäule") die Erklärung gibt: i. e. intolerabiles
imbres et gravia tonitrua coruscationesque ac lampades
infecit super eos (Sp. 1158). 2 Personen der Moses-
gruppe tragen Reliquiare (darunter Kardinal Bessarion
ein größeres), wie auch im Sinaibild bei der 2. Rück-
kunft Mosis Aaron ein solches in der Hand hält.
Wir haben dabei an die aus Ägypten mitgenommenen
Reliquien Josephs zu denken. Comestor (Sp. 1155)
erzählt weitläufig, wie die Juden dieselben vor dem
Auszug in dem vom Nil überschwemmten Land
suchten und nur durch ein Wunder fanden. Das
Porträt hinter Moses stellt jedenfalls nicht den 20jährigen
Piero di Cosimo dar, sondern vielleicht den Ghirlan-
dajo ; die Züge würden zu seinem Selbstbildnis aus
der Vertreibung Joachims in Sta. Maria Novella in
Florenz gut stimmen.

Im folgenden Freskenpaar (Abb. 3 und 4) hat sich
Rosselli ganz an Comestor gehalten. Die Ankunft des
Volkes „dem Berge gegenüber" (Lager im rechten
Hintergrund) und der Bundesschluß am Fuße des Sinai
liegen der Erzählung voraus. An letzteren erinnern
aber noch der (entweihte) Altar und das große um-
 
Annotationen