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Zeitschrift für christliche Kunst — 19.1906

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Cremer, Franz Gerhard: Unsere Künstler und das öffentliche Leben, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4095#0185

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281

1906. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 9.

282

über diese künstlerisch-mathematische Frage
unterrichten. Nehmen wir aus vielen dies-
bezüglichen Schriften gar die eines Dilettanten.
Friedrich Röber schreibt in seinen Beiträgen
zur Erforschung der geometrischen Grund-
formen in den alten Tempeln Ägyptens und
deren Beziehung zur alten Naturerkenntnis
(Dresden, 1854) S. 5: „Es sind nicht mehr
einzelne verstümmelte Berichte aus griechi-
schen und römischen Schriftstellern über die
alten Naturansichten, nicht mehr dunkle
Pythagoräische Lehren und Andeutungen, in
welchen Wahres vom Falschen nur schwer
zu unterscheiden ist, oder naturphilosophische
Aufstellungen einzelner griechischer Denker,
mit denen wir es hier zu tun haben, son-
dern es tritt uns in Originaldenkmälern die
Frucht der tiefsten Spekulationen vor Augen,
und die lange verschleierte Wahrheit bricht
sich Bahn.

Wir müssen erkennen, daß sich schon
einmal im Wechsel der Jahrtausende, in
grauer Vorzeit, der menschliche Geist bis zur
Erkenntnis von ewigen Naturgesetzen er-
hob".....ein Ausspruch, der uns lebhaft

jene denkwürdige Stelle bei Aristoteles
(Metaph. XII, 8 pag. 1074 Bekker) in die
Erinnerung ruft, wo er von „den Trümmern
einer früher einmal gefundenen und dann
wieder verlorenen Weisheit" spricht. Wir er-
innern hieran um so lieber, weil in den
diesbezüglichen Betrachtungen des Stagiriten
so recht das Wesen jenes Kunstkanons her-
vortritt, da er auch bei Durchforschung der
Einzelheiten stets das Ganze umfaßt, so die
Einheit in der Natur zu beweisen, und nicht
bloß den inneren Zusammenhang in den sich
äußernden Kräften, sondern auch in den
organischen Gestalten. Denn „in ihr", sagt
er mit sonderbarer Lebendigkeit des Aus-
drucks, wie v. Humboldt (S. 14 des III. Ban-
des seines „Kosmos") hervorhebt, „ist nichts
zusammenhanglos Eingeschobenes wie in einer
schlechten Tragödie." Daher wird die Neu-
zeit, sagt Röber, nicht zu stolz auf jene alten
Geschlechter herabsehen dürfen. Sich dann
eingehend den Kunstgesetzen zuwendend,
äußerst er sich über seine Untersuchungen
dahin, daß es ihm gewiß geworden, daß
schon das „alte Reich" im Besitze der
Grundlehren jenes Gesetzes gewesen sei, das
sich in Riesensi hriftzügen in den geometrischen
Konstruktionen der Tempel zurückfindet;

damit reichen wir aber ins fünfte Jahrtausend
vor Christus zurück. Es versteht sich von
selbst, sagt Lauth39) in seinem Werke „aus
Ägyptens Vorzeit", daß Menes, der Proto-
monarch, wie er ihn heißt, obgleich er die
eigentliche Geschichte Ägyptens einleitet,
doch nicht der Urheber jener hohen Zivili-
sation sein kann, die sich zugleich mit seiner
Herrschaft einstellt. Ein vorderhand seinem
Umfange nach nicht bestimmbarer Zeitraum
der allmählichen Er.twickelung in Anu (Helio-
polis) muß ihm vorangegangen sein. In der
Tat, fährt Lauth fort, belehren uns authentische
Texte, daß die „Horusdiener" von Heliopolis
bereits alle fundamentalen Erfindungen ge-
macht und geübt hatten. — Die näheren
Begründungen wird man an angegebener
Stelle finden, nur sei das kurz erwähnt, daß
in prähistorischer Zeit in Anu die Existenz
zweier Künste gewährleistet ist, die gerade
für uns hier von eminenter Bedeutung sind:
Architektur und Schrift.

Wohin aber führt uns diese Untersuchung?
Sie führt uns zu aller Zeiten ewigem Rätsel,
dorthin, wohin verstummend im Beginne der
Zeiten die Väter wiesen: hin zum Urheber
alles Seins, zu dem hin, den der erleuchtete
Verfasser des Buches der Weisheit anredet:
„O quam bonus, et suavis est Domine Spiritus
tuus in omnibus! (12, l.j „Der du alles nach
Maß, Zahl und Gewicht geordnet hast"
(11, 21). — Da nun alles göttlicher Ordnung
ist, wie uns Schrift und Tradition lehren, so
kann am wenigsten die Kunst, dieser Aus-
fluß göttlicher Güte, wie sie auch von Werner
betrachtet, indem sie das Menschendasein zu
veredeln und zur Erkenntnis des Höchsten
zu führen die Bestimmung hat, dieser Gesetz-
lichkeit entbehren.

Ist sie es doch, welche vornehmlich die
Maßhaltung in der Anordnung des Darzu-
stellenden begünstigt und damit jene Ver-
hältnismäßigkeit im Bilde sichert, die der
Wohlklang bedingt, und die gleichsam bei
atmendem Leben jene Vollkommenheit zu er-
reichen ermöglicht, welche das Kunstwerk gar
im höheren Sinne beseelt zu nennen gestattet.

Düsseldorf. Fr. G. Crem er.

S9) »Eine übersichtliche Darstellung der ägyptischen
Geschichte und Kultur von den ersten Anfängen bis
auf Augustus.« Von Dr. F. J. Lauth, Prof. der
Ägyptologie usw. usw. in München. (Berlin, 1881)
S. 104 u. w.
 
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