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Zeitschrift für Geschichte der Architektur — 3.1909/​10

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Dehio, Georg: Zur Geschichte der gotischen Rezeption in Deutschland: die polygonalen Chöre
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https://doi.org/10.11588/diglit.22223#0065

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Man sieht hieraus: vom Oberrhein sind die frühesten Merkmale des «Übergangs-
stils», die Kreuzrippen, die Spitzbögen, die Polygonalchöre, nicht aus dem Westen,
sondern aus dem Süden, aus Italien und aus dem burgundisch-provencalischen Gebiet
eingewandert.

Ich wende mich nun nach Trier. Hier stoßen wir auf polygonale Anlagen im
Ostchor des Doms und im Chor der Simeonskirche. Genaue Daten sind nicht über-
liefert, doch sind sie jedenfalls noch innerhalb des 12. Jahrhunderts entstanden.

Die Simeonskirche war eine Anlage ganz eigener Art, eine Doppelkirche, ein-
gebaut in die römische Porta nigra. Bei der Freilegung der letzteren zu Anfang des
19. Jahrhunderts wurde sie weggebrochen, nur der der Porta angebaute Chor blieb
stehen. Wie der Bau im Mittelalter ausgesehen hat, wurde kürzlich von Dr. ing. Heinrich
v. Behr in einer der Beachtung sehr zu empfehlenden Abhandlung1 nachgewiesen; das
architekturgeschichtliche Rätsel, als das der Chor uns entgegentritt, bedarf aber noch
weiterer Erörterung. Der Chor baute sich, den durch die Porta gegebenen Höhenlagen
entsprechend, in drei Geschossen auf. Das dritte besteht nicht mehr. Wie ich glaube,
war es ein jüngerer Zusatz. Doch sind es nicht diese lokal bedingten Eigenschaften,
auf die ich vor allem die Aufmerksamkeit zu lenken habe: es ist die Grundform der
Apsis. Sie ist, bei enormer Mauerstärke, innen halbrund, außen in fünf Seiten des
Zehnecks gebrochen; an den Ecken Strebepfeiler, denen aber eine struktive Leistung
fehlt, im Grunde nur derbe Lisenen; Gurtgesims und Kreuzgesims sind um sie herum-
geknüpft; den oberen Abschluß bildet eine Zwerggalerie mit wagrechter Abdeckung.
Was von der deutschen Entwicklung aus betrachtet als fremdartig erscheint, ist nicht
der polygonale Schluß allein, es ist das ganze Formenensemble, die Zierformen ein-
geschlossen.

Hier ist der Ort, an die Entstehung der Kirche zu erinnern. Erzbiscbof Poppo
brachte im Jahre 1028 von seiner Fahrt ins heilige Land einen syrischen Mönch namens
Simeon mit sich, der sich in die Porta nigra als Eremit einschließen ließ. Die Trierer
verehrten ihn als Heiligen. Nach seinem Tod errichtete Poppo im Jahre 1045 ihm zu
Ehren die Kirche. Würde nun der Chor, mit dem wir es zu tun haben, dem Bau
Poppos angehören, so läge die Erklärung auf der Hand: die polygonale Gestalt wäre
(manchem unserer Kollegen zu besonderer Freude) syrischer Import. Allein die Vor-
aussetzung trifft nicht zu. Wir haben ganz augenscheinlich einen Erweiterungsbau aus
dem 12. Jahrhundert vor uns. H. v. Behr denkt an französischen (nordfranzösischen)
Einfluß und weist zur Bekräftigung darauf hin, daß im 12. Jahrhundert nicht weniger
als drei Trierer Erzbischöfe und auch ein Abt von S. Simeon Franzosen gewesen seien.
Soviel ich sehe, waren sie zwar nicht eigentliche Franzosen, sondern Lothringer; immer-
hin Männer, denen es ihrer Herkunft nach näher lag, als deutschen Kirchenfürsten sonst,
sich Bauleute aus Frankreich zu holen. Entscheidend für unser Urteil können schließ-
lich doch nur die Stilmomente sein. Und hier tritt meine Eingangsbemerkung in
Kraft: die französische, d. i. nordfranzösische Schule selbst kannte bis gegen Ende des
12. Jahrhunderts den Polygonalchor nicht! Aus ihr also kann ihn die Simeonskirche nicht
entlehnt haben. Genauer ins Auge gefaßt hat die Bauform des Simeonschors mit dem
Ubergang zur Gotik gar nichts zu tun; sie entspricht einer Entwicklungsstufe, die noch
älter ist als die burgundische, von der Baseler Gruppe repräsentierte; es bleibt nur die

1 Zeitsc.hr. f. Hausachen 1908 und Sonderabdruck im Verlag der Fr. Lintzschen Buchhandlung in Trier.

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