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Zeitschrift für Geschichte der Architektur — 3.1909/​10

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Chronik
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https://doi.org/10.11588/diglit.22223#0166

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152

baues eine architektonische Ungeheuerlichkeit sei,
die man nicht zum zweiten Male wieder aufbauen
dürfe. Als malerische Ruine mit wagrechtem
Abschluß habe die Front vielmehr gewonnen;
Geymüller forderte, daß sie in dieser Gestalt er-
halten werde. Mag man zur Zeit noch nicht
schlüssig sein, ob dieser Forderung zu entsprechen
oder das Bauwerk mit einem Dach zu schützen
sei, so darf die Frage des Zwillingsgiebels doch
als abgetan gelten.

Anderen in ihren Studien behilflich zu sein
und ihnen aus seinem reichen Wissen Hinweise
zu geben, war Geymüller gern bereit. Die Louis-
Boissounet-Stiftung der Berliner Technischen Hoch-
schule, welche, dem Gedächtnis seines verstor-
benen Freundes und Studiengenossen gewidmet,
die Forschungen der Baugeschichte und des Bau-
ingenieurwesens zu fördern bestimmt ist, ist aus
den von ihm gegebenen Anregungen hervor-
gegangen.

Geymüllers Namen wird mit der Erforschung
der Wiedergeburt der klassischen Baukunst auf
das engste verknüpft bleiben. Nachdem er ihre
Entwicklung in Toskana und der Lombardei, ihre
Blüte in Rom und ihre Übertragung nach Frank-
reich erforscht hatte, faßte er in einer seiner
letzten Schriften nochmals seine Anschauungen
zusammen über ihre Entstehung, ihr Wesen und
ihre Bedeutung. Die Anfänge der neueren Bau-
kunst liegen nicht nur in den Bauwerken von
Pisa, wie gemeinhin angenommen wird, son-
dern sie lassen sich auch an den süditalischen
Bauten Kaiser Friedrichs II. von Hohenstaufen
beobachten, an denen zum ersten Male antiker
Geist und französische Gotik aufeinander ein-
wirkten. Unter dem gotischen Gewände erstarkte
das Gefühl für weite und schöne Räume, bis
unter Brunellesco die neue Bauweise in selbstän-
diger Gestalt auftrat. Eine leichtere Struktur der
Gewölbe und Pfeiler wurde gefunden, und indem

die Wiedergeburt die zwei größten denkbaren
Gegensätze, Antike und Gotik, die horizontale
und die vertikale Kompositionsweise, zu verbinden
lernte, wurde sie fähig, nach allen Richtungen
hin ihre Mission zu erfüllen, wurde aus dem
italienischen Nationalstil ein Weltstil. Um die
Aufgabe zu vollenden, kamen hundert Jahre später
die Italiener zu den nordischen Völkern, und die
Architekten der letzteren gingen wieder nach
Italien, um sich dort zu bilden. Die schon in
der Antike und dann wieder erfolgreich in der
Gotik gepflegte treue Naturbeobachtung führte
den griechisch-römischen Formen neue Elemente,
neuen Gehalt zu, und über die Lebenskraft des
klassischen Altertums hat Geymüller sich mit
schönen Worten in der geschichtlichen Übersicht
am Schlüsse des Toskana-Werkes ausgesprochen:

«Das sichtende Element des antiken Geistes
ist ein eingehendes Naturstudium, eine sorgfaltige
Auswahl nur schöner Vorbilder, das heißt solcher,
deren Körperverhältnisse und Gesichtszüge ein
vollständiges Gleichgewicht aller Elemente zeigen.
Dieses Gleichgewicht aber ist die Harmonie, und
diese Harmonie ist die nie versagende Quelle
antiker Schönheit. Ein nur vollkommenes, nur
edles Naturstudium führt stets und unfehlbar zur
Antike zurück.

Die Antike ist nichts Totes. Es ist eine Geistes-
richtung, die heute ebenso wahr ist als je. Ihr
Ideal ist das der lebendigen Vollkommenheit der
Formen.

Nur kann das Studium der Antike allein nie
der Antike würdige neue Werke hervorbringen:
Das Studium der Antike muß stets Hand in Hand
mit der lebendigen Natur gehen.»

(Ein Verzeichnis der Schriften Heinrich von
Geymüllers, für das der Raum dieses Heftes nicht
mehr ausreicht, wird im nächsten Hefte folgen.)
 
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