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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 70.1932

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Born, Wolfgang: Das "wachsende" Haus: Arbeiten des Ateliers Oberbaurat Josef Hoffmann - Prof. Oswald Haerdtl und des Architekten Erich Boltenstern, Wien
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Michel, Wilhelm: Antike Motive der modernen Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7201#0160

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los entspricht das vorliegende Haus in dieser
Beziehung allen Anforderungen. Es läßt sich un-
schwer den Verhältnissen entsprechend orien-
tieren. Die Ausführung ist: Holzriegelbau mit
Heraklithplatten, doch außen mitHolz verschalt.

Für den Ausbau sind zwei Phasen angenom-
men. Zunächst entsteht ein eigener Schlafraum.
Späterhin tritt eine kompliziertere Untertei-
lung ein, die den Wohnbedürfnissen der ver-
größerten Familie einen entsprechenden Spiel-
raum läßt. Ingeniös ist die interne Vorsorge für
die Vergrößerung. Die Änderungen, die sich bei
dieser Umgestaltung ergeben, greifen in den
ursprünglichen Bestand fast gar nicht ein.

Der Vergleich zwischen den beiden be-
schriebenen Haustypen ergibt bereits eine

Vorstellung von der Mannigfaltigkeit der mög-
lichen Lösungen. Eine überall gleichmäßig an-
wendbare Type wird es ebensowenig in dem
wachsenden Haus geben, wie in anderen Dingen,
die dem Leben dienen. Ja, die Idee des wach-
senden Hauses ist als solche schon individua-
listisch. Das aber macht sie gerade fruchtbar.
Denn, wenn die Zeichen der Zeit nicht trügen,
so stehen wir vor einem Wiedererstarken der
individuellen Ansprüche, die der Einzelmensch
an die Gestaltung seines Lebensraumes stellt.
Die Norm als Errungenschaft soll und wird
nicht aufgegeben werden. Aber sie wird sich
einem architektonischen Organismus unter-
ordnen, der durchaus auf den Menschen be-
zogen ist........... Dr. WOLFGANG BORN.

ANTIKE MOTIVE DER MODERNEN KUNST

Durch das Werk Picassos, durch das Werk
Chiricos, Souverbies, Lurcats und andrer
Pariser Maler gehen antike Motive. Faltenwurf
griechischer Gewänder, Trümmer von Säulen
und Architraven antiker Tempel, antikische
Linien in der Zeichnung von Rossen, Pferde-
führern, ruhenden Frauen erscheinen auf den
Gemälden dieser Künstler. Was aber sofort
dabei sichtbar wird, ist dies, daß dieses moderne
Aufgreifen antiker Motive einen ganz anderen
Sinn hat als etwa bei Poussin, bei David, Ingres,
Puvis de Chavannes, Marees, Klinger. Es geht
nicht um eine stilistische „Anlehnung" an die
Antike, nicht um ein argloses Sich-Hineinfühlen
in ihre ferne, hohe Welt, sondern um eine reale,
lebensechte Auseinandersetzung mit ihr. Am
besten läßt sich dies am Werk Chiricos zeigen.
Chirico steht nicht mit historizistischem, archäo-
logischem Abstandsbewußtsein vor der Antike,
sondern mit heutigen Lebensbedürfnissen
wühlt er in ihrem Bestand, mit heutigen
Fragen, die uns wirklichen Menschen auf die
Nägel brennen, erprobt er ihre Formen, ihre
hohen Gestalten. Seine Auseinandersetzung mit
der Antike ist nicht eine Sache der Ästhetik,
sondern eine Sache der Religion — sofern man
unter „Religion" versteht: alles, was den Men-
schen real und in seinem geistigen Lebenskern
angeht. Was ist noch wirklich an der Antike?
Was lebt noch von ihr? Wie geht sie dunkel
noch mitten durch unser Dasein? Und von
dieser Echtheit der Fragestellung allein läßt
sich Chiricos Stil begreifen. Er gibt Menschen-
gestalten, deren Inneres offen ist und, gleichsam
als Eingeweide, korinthische Säulenkapitelle,
geschmückte Tempel-Metopen in ruinöser An-
häufung zeigt. Er stellt nebeneinander antike
Säulengiebel und moderne, rauchende Fabrik-

schlote, oder ein Roß mit griechischem Pferde-
führer und irgend ein trockenes Möbelstück der
Gegenwart. Darin liegt Vielerlei; z. B. daß im
Innern des heutigen, namentlich des südlichen
Menschen noch Vieles von antiker Form nach-
wirkt; oder daß alte, hellenische Form die mo-
derne Gestaltung widerlegt; oder daß moderne
Technik mächtig ist wie ein alter Tempel; oder
daß wir an u n s r e Zeit verwiesen sind und uns
nicht ins Alte zurückträumen sollen. Wie man
auch die rationale „Aussage" dieser Gemälde
fassen will: auf jeden Fall bedeuten sie fak-
tische Aussprache mit der Antike, in der
der Sprechende die Gegenwart keinen Augen-
blick vergißt — und daher haben diese Ge-
mälde den Stil der Überschneidung, der Über-
blendung; den Stil der Stilverwirrung; den Stil
des realen Gegeneinander und einer kühnen,
über Jahrtausende hingreifenden Simultanität.
In Künstlern wie Chirico vollzieht sich unbe-
wußt eine Art „religiöser" Aufarbeitung
der Antike, also eine Arbeit, die nicht nach
bisherigen ästhetischen oder gar geschmack-
lichen Kategorien zu betrachten ist, sondern
als faktische Erprobung, als Lebensbefragung
der hellenischen Form- und Geisteswelt.

In der Arbeit dieser Künstler vollzieht sich
das gleiche wie in dem Werk von Dichtern wie
Andre Gide oder Jean Cocteau, von Musikern
wie Honegger oder Strawinsky: antike Welt
wird mit moderner Welt auf gegenwärtige
Lebensfragen hin konfrontiert. Gides „Ödipus"
kommt über die Jahrtausende hinweg in unsre
Zeit gewandert, nicht als ein Bild, in das etwas
„eingekleidet" ist, sondern als ein Menschen-
bruder, der heute erst seine Erlösung findet
und uns Mut gibt, unser eigenes, schweres Ge-
schick zu erfüllen...........Wilhelm michel.
 
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