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Ein symmetrischer Bürgermeister.
allein alles Vigiliren des Gerichtsdieners nnd des Nachtwächters
blieb ohne Erfolg. Der Bürgermeister wollte einen Handwerks-
burschen, den man beim Fechten erwischt hatte, zum Halseisen
verurtheilt wissen, doch gab dies der Gerichtsamtmann nicht zu.
Der kleine, bucklige Gcrichtsschreiber Müller, welcher dieses
ausdrückliche Verbot dem Bürgermeister überbrachte, wäre von
Letzterem in der augenblicklichen Aufregung fast zur Treppe
hinabgeworfen worden. Der alte Nachtwächter, dem der Bürger-
meister erst zehn und dann sogar zwanzig Thaler versprach,
wenn er —• nur der Symmetrie halber — auf eine kleine Viertel-
stunde in dem andern Halseisen am Rathhause paradiren wollte, wies
diese Auszeichnung auch beharrlich ab, und so blieb endlich nichts
weiter übrig, als den Dieb ohne entsprechendes Gegenstück allein
an den Pranger zu stellen. Während nun die Einwohner von
M. sich an diesem Schauspiele praktischer Gerechtigkeit höchlichst
ergötzten, verschloß sich der Bürgermeister daheim in sein Kämmerlein,
denn der Anblick einer so ungleichen Ausschmückung des Rathhaus-
portals würde sein Schönheitsgefühl allzu tief verletzt haben.
Noch manchen ähnlichen Charakterzug aus dem Leben des
Bürgermeisters könnten wir berichten, doch wollen wir uns heute
nur noch mit den letzten Beweisen seiner in Fleisch und Blut
übergegangenen Liebe zur Symmetrie beschäftigen.
Die Krankheit des guten Mannes, von der wir im Anfang
unsrer Erzählung berichteten, nahm trotz aller Bemühungen des
Arztes in M. und seines aus der Kreisstadt herbeigezogenen
Kollegen einen immer bedenklicheren Verlauf und der Bürger-
meister fühlte bald selbst, daß es mit ihm zu Ende gehe.
Unverzagt und männlich sah er seinem Schicksale entgegen.
Wenige Tage vor seinem Tode ließ er den schon erwähnten
Gcrichtsschreiber an sein Krankenlager rufen.
Dieser wußte gar nicht, wie er zu einer so hohen Ehre
käme, denn er hatte sich niemals der besonderen Beachtung
des Stadtoberhauptes erfreuen können; der Bürgermeister war
ihm vielmehr, wo es anging, immer ausgcwichen, wahr-
scheinlich weil Jenem der Anblick des Verwachsenen störend
gewesen war. In der That war auch der kleine Gerichtsschreiber
nichts weniger als ein Adonis, denn seine linke Schulter war
mit einem ungewöhnlich großen Höcker versehen, so daß er weit
eher dem Glöckner Quasimodo in Victor Hugo's Roman
gleichen konnte.
Der Gerufene erschien zögernd beim Bürgermeister und
wurde nach seiner Anmeldung sofort an das Bett des Kranken
beschieden. Hier wollte er in wohlgesetzter Rede sein Bedauern
über den Zustand des Kranken ausdrücken und der Hoffnung
auf baldige Genesung Worte verleihen; doch kam er nicht weit
in seinem Sermon, denn der Kranke wies kopfschüttelnd alle
Tröstungen zurück.
„Geben Sie sich keine Mühe, mich über meinen Zustand
täuschen zu wollen", sprach mit schwacher Stimme der kranke
Bürgermeister, „ich weiß recht gut, wie es mit mir steht, und
daß ich nur noch kurze Zeit zu leben habe."
„Aber, lieber Herr Bürgermeister, es ist sicher noch nicht
alle Hoffnung aufzugeben", entgegnete der Gerichtsschreiber, „mein
Vater seliger —"
„Lassen wir jetzt Ihren seligen Vater bei Seite", unterbrach
ihn der Kranke, „ich habe Sie rufen lassen, weil ich Ihnen
einen letzten Wunsch zu erkennen geben möchte."
„Was in meinen Kräften steht, denselben zu erfüllen,
soll geschehen; darauf gebe ich Ihnen mein Wort," sprach der
Gerichtsschreiber treuherzig.
„Das glaube ich auch, doch fürchte ich fast, Sie durch
meine Bitte zu beleidigen", bemerkte lächelnd der Bürgermeister.
„Durchaus nicht, gestrenger Herr", fiel rasch der immer
neugieriger werdende Gerichtsschreiber ein, „Sie haben nicht
zu bitten, sondern nur zu befehlen und ich werde zu gehorchen
wissen."
„Und ich werde mich Ihnen dafür auch nach meinem Tode
dankbar erweisen", sprach sichtlich erleichtert der Bürgermeister.
„Meine Auslösung steht nahe bevor", fuhr er dann .ruhig
und gefaßt fort, „ich habe deßhalb auch schon Alles in Ordnung
gebracht, sogar das Zukünftige, nämlich — mein Begräbniß und
den Zug, welcher meinem Sarge folgen soll. Diejenigen meiner
Mitbürger, von denen ich sicher bin, daß sie entweder aus
Anhänglichkeit und Freundschaft oder auch nur aus Convenienz
den Conduct bilden werden, habe ich hier auf einen Zettel
verzeichnet und zwar gleich in der von mir aufgestellten Zug-
ordnung. Oft haben mich bei Anfertigung der letzteren nicht
Rang und Stand des Einzelnen, sondern vielmehr nur dessen
körperliche Größe und seine Gestalt geleitet. Von der Liebe
Ein symmetrischer Bürgermeister.
allein alles Vigiliren des Gerichtsdieners nnd des Nachtwächters
blieb ohne Erfolg. Der Bürgermeister wollte einen Handwerks-
burschen, den man beim Fechten erwischt hatte, zum Halseisen
verurtheilt wissen, doch gab dies der Gerichtsamtmann nicht zu.
Der kleine, bucklige Gcrichtsschreiber Müller, welcher dieses
ausdrückliche Verbot dem Bürgermeister überbrachte, wäre von
Letzterem in der augenblicklichen Aufregung fast zur Treppe
hinabgeworfen worden. Der alte Nachtwächter, dem der Bürger-
meister erst zehn und dann sogar zwanzig Thaler versprach,
wenn er —• nur der Symmetrie halber — auf eine kleine Viertel-
stunde in dem andern Halseisen am Rathhause paradiren wollte, wies
diese Auszeichnung auch beharrlich ab, und so blieb endlich nichts
weiter übrig, als den Dieb ohne entsprechendes Gegenstück allein
an den Pranger zu stellen. Während nun die Einwohner von
M. sich an diesem Schauspiele praktischer Gerechtigkeit höchlichst
ergötzten, verschloß sich der Bürgermeister daheim in sein Kämmerlein,
denn der Anblick einer so ungleichen Ausschmückung des Rathhaus-
portals würde sein Schönheitsgefühl allzu tief verletzt haben.
Noch manchen ähnlichen Charakterzug aus dem Leben des
Bürgermeisters könnten wir berichten, doch wollen wir uns heute
nur noch mit den letzten Beweisen seiner in Fleisch und Blut
übergegangenen Liebe zur Symmetrie beschäftigen.
Die Krankheit des guten Mannes, von der wir im Anfang
unsrer Erzählung berichteten, nahm trotz aller Bemühungen des
Arztes in M. und seines aus der Kreisstadt herbeigezogenen
Kollegen einen immer bedenklicheren Verlauf und der Bürger-
meister fühlte bald selbst, daß es mit ihm zu Ende gehe.
Unverzagt und männlich sah er seinem Schicksale entgegen.
Wenige Tage vor seinem Tode ließ er den schon erwähnten
Gcrichtsschreiber an sein Krankenlager rufen.
Dieser wußte gar nicht, wie er zu einer so hohen Ehre
käme, denn er hatte sich niemals der besonderen Beachtung
des Stadtoberhauptes erfreuen können; der Bürgermeister war
ihm vielmehr, wo es anging, immer ausgcwichen, wahr-
scheinlich weil Jenem der Anblick des Verwachsenen störend
gewesen war. In der That war auch der kleine Gerichtsschreiber
nichts weniger als ein Adonis, denn seine linke Schulter war
mit einem ungewöhnlich großen Höcker versehen, so daß er weit
eher dem Glöckner Quasimodo in Victor Hugo's Roman
gleichen konnte.
Der Gerufene erschien zögernd beim Bürgermeister und
wurde nach seiner Anmeldung sofort an das Bett des Kranken
beschieden. Hier wollte er in wohlgesetzter Rede sein Bedauern
über den Zustand des Kranken ausdrücken und der Hoffnung
auf baldige Genesung Worte verleihen; doch kam er nicht weit
in seinem Sermon, denn der Kranke wies kopfschüttelnd alle
Tröstungen zurück.
„Geben Sie sich keine Mühe, mich über meinen Zustand
täuschen zu wollen", sprach mit schwacher Stimme der kranke
Bürgermeister, „ich weiß recht gut, wie es mit mir steht, und
daß ich nur noch kurze Zeit zu leben habe."
„Aber, lieber Herr Bürgermeister, es ist sicher noch nicht
alle Hoffnung aufzugeben", entgegnete der Gerichtsschreiber, „mein
Vater seliger —"
„Lassen wir jetzt Ihren seligen Vater bei Seite", unterbrach
ihn der Kranke, „ich habe Sie rufen lassen, weil ich Ihnen
einen letzten Wunsch zu erkennen geben möchte."
„Was in meinen Kräften steht, denselben zu erfüllen,
soll geschehen; darauf gebe ich Ihnen mein Wort," sprach der
Gerichtsschreiber treuherzig.
„Das glaube ich auch, doch fürchte ich fast, Sie durch
meine Bitte zu beleidigen", bemerkte lächelnd der Bürgermeister.
„Durchaus nicht, gestrenger Herr", fiel rasch der immer
neugieriger werdende Gerichtsschreiber ein, „Sie haben nicht
zu bitten, sondern nur zu befehlen und ich werde zu gehorchen
wissen."
„Und ich werde mich Ihnen dafür auch nach meinem Tode
dankbar erweisen", sprach sichtlich erleichtert der Bürgermeister.
„Meine Auslösung steht nahe bevor", fuhr er dann .ruhig
und gefaßt fort, „ich habe deßhalb auch schon Alles in Ordnung
gebracht, sogar das Zukünftige, nämlich — mein Begräbniß und
den Zug, welcher meinem Sarge folgen soll. Diejenigen meiner
Mitbürger, von denen ich sicher bin, daß sie entweder aus
Anhänglichkeit und Freundschaft oder auch nur aus Convenienz
den Conduct bilden werden, habe ich hier auf einen Zettel
verzeichnet und zwar gleich in der von mir aufgestellten Zug-
ordnung. Oft haben mich bei Anfertigung der letzteren nicht
Rang und Stand des Einzelnen, sondern vielmehr nur dessen
körperliche Größe und seine Gestalt geleitet. Von der Liebe
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Ein symmetrischer Bürgermeister"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 61.1874, Nr. 1524, S. 106
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg