frisch repariert zu seiner eigenen Hochzeit. Wie lang das her ist? —
Fünf Jahre über ein halbes Jahrhundert. Sein Weib Maria Scholastika
schläft längst unter dem Stein, den er für sich selbst und sie gekauft.
Auch der Sohn, das einzige Kind, das sie ihm geboren, ist voriges Jahr
gestorben — in der Fremde. Nur zwei Enkel leben noch. Sie sind
mit ihrer Wärterin des Grossvaters Hausgenossen.
Der Grethmeister lehnt sich in den Stuhl zurück. Er horcht auf das
gespenstische Knistern im Gebälk. Draussen schleicht der Mond um
die gotischen Fenster. Jost Balthasar greift zur Brille. Es ist eine
mit runden in Silber gefassten Gläsern und Gelenkstangen, die er ein-
gebogen über die Ohren schiebt. Das hilft nun nicht, er muss nachrechnen.
Ungern tut er’s, aber feige den Kopf in den Sand stecken: „Ich seh
nichts! ich hör nichts! Wenn Schulden von meinem Sohn da sind,
geht’s mich nichts an. Er ist mündig und wenn er sie gemacht hab
soll er sie auch zahlen. Wenn er aber unterm Rasen liegt, sollen die
den Schaden tragen, wo ihm gepumpt haben“, so zu denken war nicht
seine Art. Bei Jost Balthasar gibt’s keine Vogelstraussmanieren. Er
trägt tapfer sein Seelenjoch: „An meinem einzigen Buben lass ich
keinen Menschen was verlieren, so lang ich einen Batzen mein eigen
nenn. Gott sei Lob, dass seine Mutter die Schuldenmacherei und alles,
was drum und dran ist, nicht erlebt hat!“
Dann beginnt der Grethmeister. Er ordnet die Rechnungen, schreibt
säuberlich mit breiter Gänsekielfeder Nummern drauf und die Beträge
notiert er auf einer Schiefertafel.
Draussen auf dem Pflaster tönen Fusstritte. Dann klopft eine
Hellebarde: eins, zwei, drei — bis zehnmal auf die Steine und eine
Stimme krächzt:
„Zehn Jungfrauen warten frei,
Bis der Bräut’gam kommt herbei!“
Dann stösst der Nachtwächter in sein Horn und bestätigt: „Wohl um
die Zehne!“
Es ist als wolle Jost Balthasar den Kopf heben und die Arme
sinken lassen. Doch sein mächtiger Wille bannt ihn an die hoffnungs-
raubende Arbeit. Er rechnet. Die Nacht geht ihren Gang. Er merkt’s
kaum. Von ihm unbeachtet beginnt der Nachtwächter jede seiner
Stunden zwischen Rathaus und Kornhalle.
Zwölf Uhr, ein Uhr, zwei Uhr sind vorüber. Erst als es lautet:
77
Fünf Jahre über ein halbes Jahrhundert. Sein Weib Maria Scholastika
schläft längst unter dem Stein, den er für sich selbst und sie gekauft.
Auch der Sohn, das einzige Kind, das sie ihm geboren, ist voriges Jahr
gestorben — in der Fremde. Nur zwei Enkel leben noch. Sie sind
mit ihrer Wärterin des Grossvaters Hausgenossen.
Der Grethmeister lehnt sich in den Stuhl zurück. Er horcht auf das
gespenstische Knistern im Gebälk. Draussen schleicht der Mond um
die gotischen Fenster. Jost Balthasar greift zur Brille. Es ist eine
mit runden in Silber gefassten Gläsern und Gelenkstangen, die er ein-
gebogen über die Ohren schiebt. Das hilft nun nicht, er muss nachrechnen.
Ungern tut er’s, aber feige den Kopf in den Sand stecken: „Ich seh
nichts! ich hör nichts! Wenn Schulden von meinem Sohn da sind,
geht’s mich nichts an. Er ist mündig und wenn er sie gemacht hab
soll er sie auch zahlen. Wenn er aber unterm Rasen liegt, sollen die
den Schaden tragen, wo ihm gepumpt haben“, so zu denken war nicht
seine Art. Bei Jost Balthasar gibt’s keine Vogelstraussmanieren. Er
trägt tapfer sein Seelenjoch: „An meinem einzigen Buben lass ich
keinen Menschen was verlieren, so lang ich einen Batzen mein eigen
nenn. Gott sei Lob, dass seine Mutter die Schuldenmacherei und alles,
was drum und dran ist, nicht erlebt hat!“
Dann beginnt der Grethmeister. Er ordnet die Rechnungen, schreibt
säuberlich mit breiter Gänsekielfeder Nummern drauf und die Beträge
notiert er auf einer Schiefertafel.
Draussen auf dem Pflaster tönen Fusstritte. Dann klopft eine
Hellebarde: eins, zwei, drei — bis zehnmal auf die Steine und eine
Stimme krächzt:
„Zehn Jungfrauen warten frei,
Bis der Bräut’gam kommt herbei!“
Dann stösst der Nachtwächter in sein Horn und bestätigt: „Wohl um
die Zehne!“
Es ist als wolle Jost Balthasar den Kopf heben und die Arme
sinken lassen. Doch sein mächtiger Wille bannt ihn an die hoffnungs-
raubende Arbeit. Er rechnet. Die Nacht geht ihren Gang. Er merkt’s
kaum. Von ihm unbeachtet beginnt der Nachtwächter jede seiner
Stunden zwischen Rathaus und Kornhalle.
Zwölf Uhr, ein Uhr, zwei Uhr sind vorüber. Erst als es lautet:
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