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Heft 2

Wenn Kinder stammeln.
Winke für Mütter. Von I. p. Filskow.
in allgemein verbreitetes Sprechübel ist das Stammeln, das vielfach
mit Stottern verwechselt wird. Beide Sprachstörungen sind nach Wesen
und Ursache grundverschieden. Stottern ist ein Fehler in der Rede,
Stammeln dagegen ein Fehler in der Aussprache. Der Stotterer kann jeden
Laut richtig erzeugen, vermag es aber nicht, einzelne Laute zu Silben und
Wörtern schnell und leicht miteinander zu verbinden. Die Ursache besteht in
krampfartigen Zusammenziehungen der Sprachmuskeln.
Der Stammler dagegen bildet gewisse Laute fehlerhaft oder kann sie über-
haupt nicht erzeugen und ersetzt sie darum durch andere. Dabei spricht er sehr
rasch, um schnell und unbemerkt über die gefährlichen Hindernisse hinwegzu-
hüpfen, wobei seine Sprache undeutlich wird und unangenehm wirkt.
In den allermeisten Fällen sind es gewisse Konsonanten, die beim Stammeln
beteiligt sind. Daß ein Kind nicht fähig ist, solche richtig oder gar nicht zu
bilden, kann seine Ursache in einem unnatürlichen Bau der Rachen- und Mund-
höhle haben. Dann spricht man von organischem Stammeln. Am häufigsten
kommt Stammeln vor, das seine Entstehung in mangelhafter Spracherziehung
hat. Meist entstand es dadurch, das; der Stammler in den ersten Lebensjahren
die betreffenden Laute nicht genau auffaßte und seine Erzieher ihn nicht ge-
hörig zur Berichtigung seiner fehlerhaften Aussprache anhielten. Dieses Sprech-
gebrechen ist nicht angeboren, wie viele Eltern glauben, sondern anerzogen
worden. Das Kind lernt sprechen durch Nachahmung; was es hört, was ihm
vorgesprochen wird, das spricht es nach, War das sprachliche Vorbild in den
ersten Lebensjahren schlecht, dann wurde das Kind durch diese Sprachnachlüssig-
keit beeinflußt.
Viele Mütter glauben, sich ihren Lieblingen verständlicher zu machen,
wenn sie ähnlich wie diese sprechen, die noch nicht befähigt sind, die Laute
richtig zu bilden. Ja, sie finden es drollig und haben ihre Freude daran, wenn
ihre Kleinen im zweiten und dritten Jahre in ihrem Kauderwelsch losplappern.
Anstatt den Kindern die Laute richtig vorzusprechen, plappert man womöglich
ebenso und impft ihnen so geradezu die Keime der Sprechgebrechen ein. Später
werden dann die Mütter tieftraurig sein, wenn sie erleben, daß ihre Lieblinge
mit einem unangenehm auffallenden Sprechfehler behaftet bleiben.
Hieraus ergibt sich die ernste Mahnung: Jede Mutter beschäftige sich mit
ihrem Liebling soviel wie möglich selbst und befteißige sich im Verkehr mit
ihm stets einer völlig lautrichtigen Aussprache! Spricht das Kind etwa Oma,
tein, Ut, dost, so spreche die Mutter ihm stets richtig und langsam Großmutter,
klein, Hut, groß vor. Das Kind lernt dann auch bald, sich richtig ausdrücken
und kann, wie ich aus Erfahrung weiß, bereits im zweiten Lebensjahre völlig
lautrein sprechen.
Trotz aller strengen Aufsicht und Erziehung kann es dennoch vorkommen,
daß bei dem betreffenden Kinde später, etwa durch den Verkehr mit schlecht-
sprechenden Spielgenossen oder durch Nachlässigkeit oder während des Zahn-
wechsels, gewisse Sprechfehler sich entwickeln. In solchen Fällen kommt es
darauf an, den Falschsprechern oder Stammlern beizubringen, wie sie die
Laute richtig bilden sollen.
Die am häufigsten vorkommenden Arten des Stammelns sind das Lispeln,
das l-Stammeln, das Dahlen oder k-Stammeln, das Schnarren und das
Näseln.
Das Lispeln besteht in einer fehlerhaften Aussprache der s-Laute. Diese
werden richtig gebildet, indem man beide Reihen der Vorderzähne recht dicht
aneinanderbringt, die Zunge etwas rinnenartig formt und ihre Spitze ent-
weder leicht vor die untere Schneide oder ein wenig gegen die obere legt, so
daß der über die Längsrinne der Zunge streichende Luftstrom an der Zahn-
schneide das bekannte Reibegeräusch hervorruft. Läßt man gleichzeitig die
Stimmbänder des Kehlkopfes mitschwingen, so hört man das stimmhafte s,
ähnlich wie das Summen einer Fliege. Der Lispler vermag aber nicht, seine
Zunge hinter der Zahnsperre zurückzuhalten, sondern schiebt sie beim Bilden
der s-Laute gewöhnlich zwischen die ziemlich weitgeöffneten Zahnreihen hin-
durch, so daß sie fortwährend im Wege ist und er beim Sprechen unablässig
über sie stolpern muß. Zur Heilung dieses Sprechübels wende man folgendes
Verfahren an: Man lege ein dünnes Holzstäbchen so quer über die Vorder-
zunge, daß es einen Halt an den beiden unteren Eckzähnen bekommt. Nun
lasse man den Lispler die Zahnreihen aufeinanderlegen, den Mund recht breit
ziehen und das stimmlose und das stimmhafte s abwechselnd hervorbringen,
dann in verschiedenen Wortverbindungen als An-, In- und Auslaut sprechen.
Auch lasse man den Lispler mit dieser Mundstellung lesen oder zusammen-
hängend erzählen. Auf diese Weise wird er gezwungen, seine Zunge in der
richtigen Lage zu halten. Ein anderes Verfahren besteht darin, daß man
den Lispler dazu auffordert, beim Sprechen oder Lesen die Schneidezähne fest
aufeinanderzupressen, denn auch dadurch wird die Zunge gewaltsam zurück-
gehalten. l'lbt der Lispler sich nach irgend einem Verfahren und mit stark in
die Breite gezogenen Lippen eine Zeitlang in recht langsamem Sprechen und
Lesen, dann wird sein Sprechübel bald verschwinden. Es gibt auch Lispler,
die beim Hervorbringen des s-Lautes die Zungenspitze an das Zahnfleisch der
oberen Schneidezähne oder noch weiter rückwärts legen. In diesem Falle wende
man ebenfalls das Holzstübchen an und drücke damit die Zunge in die richtige
Lage nach unten. Andere Lispler ziehen die Zungenspitze von den Zähnen
zurück, so daß der Zungenrücken sich wölbt, und jetzt entsteht ein dem sch ähn-

licher Laut. In diesem Falle lege inan das Holzstäbchen der Länge nach auf
die Vorderzunge und drücke diese leise so hinunter, das; das Stäbchen auf der
unteren Schneide zu ruhen kommt und der Luftstrom sich dorthin richtet.
Ein oft vorkommender Sprechfehler ist das l-Stammeln. Die damit Be-
hafteten setzen ein n für das l ein und sagen Nampe, Fniege und Wonne statt
Lampe, Fliege und Wolle. Der Fehler rührt daher, das; beide Laute an
derselben Artikulationsstelle und in ähnlicher Weise gebildet werden, nämlich
indem man die Zungenspitze an den Alveolarrand (Wulst) der oberen Schneide-
zähne legt. Bei der Bildung des Lautes n werden jedoch die seitlichen Ränder
der Vorderzunge an die Schneide- und Eckzähne so gepreßt, das; ein völliger
Abschluß entsteht und der Luftstrom nicht zum Munde hinaus kann, sondern
gezwungen wird, seinen Weg durch die Nase zu nehmen, wodurch der bekannte
Nasenlaut erfolgt. Nimmt nun ein Kind beim Hervorbringen des Lautes l
diese fehlerhafte Artikulationsstellung ein, dann lasse man es den Mund sehr
weit öffnen und drücke ihm gleichzeitig die Nase fest zu. So wird die Bildung
des Lautes n unmöglich gemacht, und sehr wahrscheinlich ertönt ein, wenn
auch vorläufig nicht schöner, l-Laut. Sollte sich dieses Verfahren erfolglos
erweisen, dann schiebe man von jeder Seite in der Gegend der Eckzähne je
ein dünnes Holzstäbchen ein wenig über die Zungenränder, drücke diese sanft
abwärts und lasse das Kind selbst die Nasenflügel zudrücken. Nun muß der
Luftstrom den richtigen Ausgang finden, und der l-Laut ertönt unwillkürlich.
Anstatt der Holzstäbchen kann man auch einen seidenen Faden über die Vorder-
zunge legen und mit seiner Hilfe die Seitenränder leise herabziehen. Einige
Kinder bilden den l-Laut, indem sie die gehobene Zungenspitze gegen harten
Gaumen weit zurückbiegen. Dann ertönt ein unschönes Rachen-l, und es hört
sich an, als ob diese Kinder einen Knoten an der Zunge hätten. In diesem
Falle wird der Faden ebenfalls gute Dienste leisten, indem man mit ihm die
zurückgebogene Zungenspitze langsam und sanft nach vorn gegen den Zahn-
fleischrand zieht.
Besonders schwierig ist es, Kindern die richtige Bildung der Gaumenlaute
(k, g, ng, ch) klarzumachen, weil die Artikulationsstelle ziemlich verdeckt liegt.
Diese wird nämlich durch die Hinterzunge und den Hintergaumen gewonnen.
Recht häufig begegnet man Kindern, die dahlen oder k- und g-Stammler
sind, das heißt k und g nicht sprechen können. Beide Laute werden an der
dritten Artikulationsstelle erzeugt, indem der Luftstrom durch einen, unter
Anlehnung des Zungenrückens an die Stelle, wo der harte Gaumen in den
weichen übergeht, gebildeten Verschluß auf kurze Zeit gehemmt und dann
durch plötzliche Aufhebung des Verschlusses wieder freigegeben wird. Die k-
und g-Stammler verlegen aber den Verschluß in das zweite Artikulationsgebiet,
wo sie t oder d hervorbringen und nun „tommen" und „tein" statt kommen
und klein oder „dehen" und „dut" statt gehen und gut sprechen. Zur Heilung
dieses Fehlers wende man folgende Behandlung an: Mit Hilfe eines flachen
Holzstäbchens, eines dünnen Bleistiftes oder eines schmalen Löffelstieles drücke
man die Vorderzunge sanft, aber fest nach unten und fordere nun das Kind
dazu auf, t oder d zu lautieren, dann ertönt ohne weiteres k oder g. Ebenso
lasse man das Kind bei dieser Zungenlage „tommen" und „tein" oder „dehen"
und „dut" sprechen, es wird unbedingt kommen und klein oder gehen und gut
sagen, weil es die richtige Artikulationsstellung gefunden hat.
Den Schnarrern oder r-Stammlern macht die Bildung eines schönen
Zungenspitzen-r große Schwierigkeit. Zuweilen wird dieser Laut mit w, l,
ch oder l vertauscht, meist aber ertönt ein unschönes Gaumen- oder Rachen-r.
Bei der Bildung eines guten, rollenden Zungenspitzen-r muß der größere Teil
der Zunge mit den Seitenrändern an die oberen Backenzähne gelagert werden,
während die Zungenspitze etwas nach oben gegen die oberen Schneidezühne
gerichtet ist, aber sonst frei schwebt. Trifft der Luftstrom nun diese, so gerät
sie in Schwingungen, und das Zungenspitzen-r ertönt. Der r-Stammler will
dagegen den ganzen Zungenkörper zum Schwingen bringen. Um ihm dieses
abzugewöhnen und ihm die richtige Artikulationsstellung beizubringen, schneide
man aus Holz eine kleine Gabel mit O-förmigen und abgeglätteten Zinken
in der Weite der oberen Backenzahnreihen zurecht. Diese schiebe man vor-
sichtig unter die Zunge und drücke diese sanft gegen die oberen Backenzähne,
so daß die Zungenspitze frei schwebt und vom Luftstrom leicht zum Flattern
gebracht werden kann. Vor allem empfehle ich, von dem Lippen- oder dem
sogenannten Fuhrmanns-r auszugehen. Kinder spielen bekanntlich gern „Pferd
und Kutscher" und sind sämtlich durchweg imstande, den Fuhrmannston brr
hervorzubringen. Man lasse diesen von r-Stammlern recht oft nacheinander
erzeugen und veranlasse sie dabei, schnell die Lippen zu öffnen, wobei es ihnen
schließlich gelingt, die zitternde oder rollende r-Bewegung auf die Zungenspitze
zu übertragen. Gleichzeitig müssen die betreffenden Stammler etwa folgende
Verbindungen, schnell nacheinander üben: pr, mr, fr, dr, tr.
Zum Stammeln rechnet man auch das unangenehme Näseln. Dieses
Sprechübel hat vielfach seinen Grund darin, das; das Gaumensegel mit dein
Zäpfchen erschlafft ist, so daß dieses lose herabhängt, anstatt sich an die Hintere
Rachenwand anzulehnen. Das Mel läßt sich leicht dadurch beseitigen, daß
der Näsler mit recht lauter, hoher und kräftiger Stimme spricht. Der ver-
stärkte Luftstrom bewirkt nämlich eine Zusammenziehung des Gaumensegels,
das sich infolgedessen mit dem Zäpfchen hebt und die Eingänge zur Nasen-
höhle abschließt.
Sollte endlich das Stammeln seine Ursache in einen: fehlerhaften Bau
der Sprechwerkzeuge haben, wie in einer gespaltenen Oberlippe (Hasenscharte),
in einein gespaltenen Gaumen (Wolfsrachen), einer Lähmung des Gaumen-
segels, einem zu kurzen Zungenbande oder Rachen- und Nasenwucherungen,
dann muß man ärztliche Hilfe suchen.
 
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